Zum Sprechen von Versen

M01 Zur quantitierenden Metrik

Im Deutschen werden Verse durch die geregelte Abfolge von betonten und unbetonten Silben gebildet.
Dieser "dynamische Akzent" liegt in der Regel auf der Stamm-, also der sinntragenden Silbe eines Wortes.
Im Griechischen ist dies nicht der Fall. Hier bestimmt die Abfolge langer und kurzer Silben den Vers (quantitierende Metrik). Zum Beispiel:
Iambus oder iambischen Versfuß nennen wir die Abfolge kurze Silbe - lange Silbe, in Zeichen:  ⏑   ‒ .
Ein iambisches Metrum wird von zwei Iamben gebildet, also von vier Silben mit der Abfolge  ⏒    ‒    ⏑   ‒  ,
dessen erste Silbe nun allerdings auch lang sein darf.
Iambischer Trimeter heißt die Verszeile aus drei iambischen Metren (s. u. die Bespiele von Menander),
deren letzte Silbe, eigentlich lang, vor der Pause des Zeilenendes auch kurz sein darf (anceps: Í).

Lang sind Silben entweder von "Natur" oder durch "Position":
Naturlänge = Silben mit langem Vokal oder Diphthong
       Ausnahme = Hiatkürzung: in der Wortfuge kann ein auslautender langer vor einem anlautenden Vokal        gekürzt werden; Beispiele s. M02.

Positionslänge = auf den Vokal folgen zwei oder mehr Konsonanten (auch ψ, ζ, ξ)
       Ausnahmen = Muta (β, δ, γ - π, τ, κ - φ, θ, χ) + Liquida (μ, ν, λ, ρ) können kurz gesprochen werden; s.M02.

Zur Kennzeichnung des Metrums gibt es folgende Konvention:
Die metrischen Zeichen:
‒     = Länge, Longum
⏑     = Kürze, Breve
⏒     = Länge statt Kürze erlaubt
⏔   = Länge statt Doppelkürze
Í    = Anceps (doppelköpfig, zweideutig) Länge oder Kürze am Ende eines Sprechverses
ˈ     = Ende eines Metrums
|     = Zäsur (Einschnitt, häufig Wortende innerhalb eines Metrums)
ˈ|      = Dihärese (Teilung, notwendiges Wortende)
||      = Ende einer Verszeile

Der dynamische Akzent im Deutschen wird durch folgende Zeichen dargestellt:
x = unbetonte Silbe 
x́ = betonte Silbe

Beispiele des iambischen Trimeters:
Er war der bevorzugte Sprechvers der antiken Tragödie und Komödie (s. auch M02).

ὀ   μὴ   δα ρεὶς ˈ ἄν θρω πος   οὐ ˈπαι δεύ ε ται
⏒     ‒     ⏑    ‒  ˈ  ⏒     ‒     ⏑      ‒   ˈ  ⏒     ‒  ⏑  Í   ||

ὁ   γραμ μά των ˈ ἄ πει ρος   οὐ ˈ βλέ πει   βλέ πων.     (Menander)
⏒      ‒       ⏑    ‒    ˈ ⏒   ‒    ⏑     ‒   ˈ   ⏒    ‒       ⏑     Í   ||

Goethe übernimmt den Vers in dynamischer Betonung zur Kennzeichnung der antiken Herkunft seiner Helena:

Be wun dert  viel ˈund  viel  ge schol ˈten,  He le na,
 x    x́      x      x́    ˈ  x      x́    x    x́     ˈ  x     x́   x   x́   || 

vom  Stran de  komm ˈich,  wo  wir  erst ˈge lan det  sind,  ...  (Goethe, Faust II, V. 8488 f.)
   x        x́     x       x́      ˈ x     x́     x     x́    ˈ x    x́   x      x́    || 

Beim deutschen Vers besteht der Reiz im rhythmischen Umspielen des Taktschemas, also durch das lebendig-sinnvolle Sprechen innerhalb des Versschemas statt des bloß schematischen Leierns.

Das griechische Versmetrum wird durch das melodische Hinzu-Singen (= lat. ac-centus, griech. προσ-ῳδία) der Vokale variiert, für dessen Darstellung in der Schrift die Akzente erfunden wurden: Gegenüber den unbe-tonten Silben bezeichnete der Akut einen Hochton, der Gravis den niedrigeren Tiefton und der Zirkumflex einen aus beidem zusammengesetzten Schweifton (vergleichbar der langgezogenen Aufforderung in.: "Komm héèr!").

Wir Modernen unterscheiden beim Sprechen lange und kurze Silben nicht mehr, und wir achten auch nicht auf die Tonhöhen der Silben. Lesen wir altgriechische Prosa, betonen wir die akzentuierten Silben plump dynamisch, lesen wir aber Verse, missachten wir ebendiese Akzente und betonen nun die langen Silben des Metrums mit exspiratorisch-dynamischem Druck. Den alten Griechen wäre diese täppische Art des Sprechens ein Graus gewesen. Aber wir können's nicht anders - oder müssen uns krampfhaft bemühen.