pEpikr.kd.30-37 Protokoll zum 23.04.23

Hossenfelder über Epikurs Gesellschaftsvertrag

Zeit: 10:00 bis 12:10 Uhr              -              Ort: online
anwesend: Caren, Holger Friedrich

Übersetzung:

XXX. Ἐν αἷς τῶν φυσικῶν ἐπιθυμιῶν,

μὴ ἐπ' ἀλγοῦν δὲ ἐπαναγουσῶν ἐὰν μὴ συντελεσθῶσιν, ὑπάρχει ἡ σπουδὴ σύντονος,

παρὰ κενὴν δόξαν αὗται γίνονται

καὶ οὐ παρὰ τὴν ἑαυτῶν φύσιν οὐ διαχέονται

ἀλλὰ παρὰ τὴν τοῦ ἀνθρώπου κενοδοξίαν.

Bei welchen der natürlichen Begierden,

die aber nicht zum Schmerz führen, wenn sie nicht erfüllt werden,

der Eifer anhaltend ist,

diese entstehen aufgrund leerer Meinung

und nicht aufgrund ihrer eigenen Natur vergehen sie nicht,
sondern aufgrund der leeren Meinung des Menschen.

XXXI. Τὸ τῆς φύσεως δίκαιόν ἐστι σύμβολον

τοῦ συμφέροντος εἰς τὸ μὴ βλάπτειν ἀλλήλους

μηδὲ βλάπτεσθαι.

Das Gerechte der Natur ist eine Vereinbarung

über das, was fürs Einander-nicht-Schaden-

und-keinen-Schaden-Erleiden nützlich ist. 

XXXII. Ὅσα τῶν ζῴων μὴ ἐδύνατο συνθήκας ποιεῖσθαι

τὰς ὑπὲρ τοῦ μὴ βλάπτειν ἄλληλα μηδὲ βλάπτεσθαι,

πρὸς ταῦτα οὐθὲν ἦν δίκαιον οὐδὲ ἄδικον.

ὡσαύτως δὲ καὶ τῶν ἐθνῶν

ὅσα μὴ ἐδύνατο ἢ μὴ ἐβούλετο τὰς συνθήκας ποιεῖσθαι

τὰς ὑπὲρ τοῦ μὴ βλάπτειν μηδὲ βλάπτεσθαι.

Welche der Lebewesen keine Verträge schließen konnten

über das Einander-nicht-Schaden-und-keinen-Schaden-Erleiden,

für die gab es kein Gerecht und kein Ungerecht.

Ebenso aber auch für diejenigen der Völker,

die keine Verträge schließen konnten oder wollten

über das Einander-nicht-Schaden-und-keinen-Schaden-Erleiden.

XXXIII. Οὐκ ἦν τι καθ' ἑαυτὸ δικαιοσύνη,

ἀλλ' ἐν ταῖς μετ' ἀλλήλων συστροφαῖς

καθ' ὁπηλίκους δή ποτε ἀεὶ τόπους

συνθήκη τις ὑπὲρ τοῦ μὴ βλάπτειν ἢ βλάπτεσθαι.

Nicht war die Gerechtigkeit etwas an sich,

sondern in den Lebensgemeinschaften miteinander

hinsichtlich wie großen Orten jeweils auch immer

ein Vertrag über das Nicht-Schaden-und-keinen-Schaden-Erleiden.

151 XXXIV. Ἡ ἀδικία οὐ καθ' ἑαυτὴν κακόν,

ἀλλ' ἐν τῷ κατὰ τὴν ὑποψίαν φόβῳ

εἰ μὴ λήσει

τοὺς ὑπὲρ τῶν τοιούτων ἐφεστηκότας κολαστάς.

Das Unrecht ist an sich kein Übel,

sondern besteht in der argwöhnischen Furcht,

ob es unbemerkt bleiben wird

vor den über solche Sachen aufgestellten Zuchtmeistern.

XXXV. Οὐκ ἔστι τὸν λάθρᾳ τι ποιοῦντα

ὧν συνέθεντο πρὸς ἀλλήλους

εἰς τὸ μὴ βλάπτειν μηδὲ βλάπτεσθαι

πιστεύειν ὅτι λήσει,

κἂν μυριάκις ἐπὶ τοῦ παρόντος λανθάνῃ.

μέχρι μὲν καταστροφῆς ἄδηλον εἰ καὶ λήσει.

Nicht ist es möglich, dass, wer heimlich etwas tut,

von denen, die gegenseitig übereinkamen

zum Nicht-Schaden-und-keinen-Schaden-Erleiden,

darauf vertraut/vertrauen kann, dass er unbemerkt bleiben wird,

auch wenn er gegenwärtig unendliche Male unbemerkt ist.

Bis zum Tode freilich ist ungewiss, ob er auch unbemerkt sein wird.

XXXVI. Κατὰ μὲν <τὸ> κοινὸν πᾶσι τὸ δίκαιον τὸ αὐτό, συμφέρον γάρ τι ἦν ἐν τῇ πρὸς ἀλλήλους κοινωνίᾳ·

κατὰ δὲ τὸ ἴδιον χώρας

καὶ ὅσων δή ποτε αἰτίων

οὐ πᾶσι συνέπεται τὸ αὐτὸ δίκαιον εἶναι.

Gemäß des Gemeinsamen war für alle dasselbe das Gerechte,
denn es war etwas Nützliches in der Gemeinschaft miteinander.

Aber gemäß des Eigenen/ der Eigenheit eines Landes

und welcher Ursachen jeweils auch immer
ergibt sich nicht für alle, dass dasselbe gerecht ist.

152 XXXVII. Τὸ μὲν ἐπιμαρτυρούμενον

ὅτι συμφέρει ἐν ταῖς χρείαις τῆς πρὸς ἀλλήλους κοινωνίας

τῶν νομισθέντων εἶναι δικαίων

ἔχει τὸ ἐν τοῦ δικαίου χώρᾳ εἶναι,

ἐάν τε τὸ αὐτὸ πᾶσι γένηται

ἐάν τε μὴ τὸ αὐτό.

Was bestätigt wird darin,

dass es im Gebrauch der Gemeinschaft zueinander nützlich ist,

vom Festgelegten, (gerecht zu sein) dass es gerecht sei,

hat das Auf-dem-Gebiet-des-Gerechten-Sein/ befindet sich auf d.Gebiet.d.G.,

sowohl wenn es für alle dasselbe geworden ist,

als auch wenn nicht dasselbe.

Hossenfelder: Was von dem, das für gerecht gehalten (vielleicht besser mit der Grundbedeutung von νομίζω: das als gerecht festgesetzt wurde) wird, sich als zuträglich für die Bedürfnisse des gegenseitigen Umgangs erweist, das nimmt die Stelle des Rechts ein, ob es nun für alle dasselbe ergibt oder nicht.

 

Unsere Gedanken dazu:

Epikurs Rechtsbegriff ist nicht zu trennen von seiner ἡδονή-Lehre und damit vom Streben nach ἀταραξία.
Wie die ἡδονή als Kern unserer oder „der“ Natur angesehen wird, so wird auch das δίκαιον von ihr abgeleitet.

Und mir scheint, dass die Reihe der κύριαι δόξαι ganz auf diesen Schluss hin angelegt ist. Schon ganz am Anfang, in Satz V, als letzte Aussage des Tetrapharmakos werden δικαίως ζῆν und ἡδέως ζῆν gegenseitig voneinander bedingt gesehen. Das Gerecht-Leben ist ebenso notwendig für die ἀταραξία wie die Furchtlosigkeit vor den Göttern, dem Tod und dem Schmerz. Und gleich darauf wird in Satz VI das θαρρεῖν ἐξ ἀνθρώπων, der eigentliche Beweggrund für das δίκαιον, genannt, und die ἐξ ἀνθρώπων ἀσφάλεια heißt in VII τὸ τῆς φύσεως ἀγαθόν, so wie in XXXI, ganz parallel dazu formuliert, der Gesellschaftsvertrag τὸ τῆς φύσεως δίκαιον heißt.

Gerechtigkeit wird durch den jeweiligen Gesellschaftsvertrag gewährleistet, der seinerseits den Nutzen für die jeweilige Gesellschaft gerantiert, und das ist die ἀσφάλεια und damit ein Teil der ἀταραξία für jedes Gesellschaftsmitglied.

ἀδικία ist ein Verstoß gegen den Vertrag und seine auf ihm beruhenden Gesetze und wird, wie Satz XXXIV es voraussetzt, von den ὑπὲρ τῶν τοιούτων ἐφεστηκότες κολασταί streng bestraft. Ja, selbst ein heimlicher Verstoß ist dem Einzelnen nicht möglich; denn er führt in lebenslange ἀταραξία und hebt damit den ursprünglichen Sinn des Gesellschaftsvertrags auf, ist also unter Epikurs Gesichtspunkten gleichsam ein Widerspruch in sich selbst; und so erklärt sich die Gleichsetzung von δικαίως ζῆν und ἡδέως ζῆν in Satz V.

Epikurs Rechtsbegriff wendet sich mit dieser Nützlichkeit für die Mitglieder einer jeweiligen Gesellschaft und damit für die ἀταραξία des Einzelnen entschieden gegen die platonische Auffassung von der Gerechtigkeit als allgemeingültiger Kardinaltugend. Was gerecht ist, gilt utilitaristisch und poitivitistisch nur in einem bestimmten Gesellschaftsraum und für eine bestimmte Zeit.

Die grammatische Schwierigkeit in Satz XXXVII:

Wir kamen am Schluss mit dem Satz XXXVII nicht wirklich zurecht und ich versprach Euch die Klärung im Protokoll; hier ist sie:
Der Infinitiv τῶν νομισθέντων εἶναι δικαίων ist nicht, wie ich mich verrannt hatte vom τό am Satzanfang abhängig, sondern τῶν νομισθέντων ist als Gen.part. von τὸ μὲν ἐπιμαρτυρούμενον abhängig; und τῶν νομισθέντων (von νομίζω) regiert seinerseits den Infinitiv εἶναι δικαίων; s. o. die Übersetzung.

Auf Holgers Frage nach der Anschlusslektüre
haben wir ein wenig hin und her überlegt und kamen dann zu Holgers Vorschlag, nach all der Abstraktion bei Epikur gleichsam zur Erholung einige der wunderbar plastischen Anekdoten des Herodot zu lesen.
Dabei habe ich leider zu berücksichtigen vergessen, dass es Ulf gefallen würde, wenn wir auch einmal wieder ein Stückchen Dichtung einschieben würden. Das müssen wir beim nächsten Treffen gemeinsam besprechen.

Nächster Termin:
Ist uns entgangen, dass der nächste Sonntag, unmittelbar vor dem 1. Mai liegt? Wollt und könnt Ihr dennoch?
Ich bin bereit. Bitte gebt Bescheid.