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p23 3x_übersetzt Plat.epVII.342b-344d

Abweichend von unserer sonstigen Praxis, gebe ich den "philosophischen Exkurs" in p23 auch in Übersetzung an, und zwar gleich in drei Übersetzungen.
Damit will ich helfen, den teilweise sprachliche schwierigen Absatz zügig zu bewältigen und zugleich schnell einen Überblick zu bekommen.
Außerdem zeigen der Vergleich der drei Übersetzungen und ihre teilweisen Abhängigkeiten voneinander, dass ein solcher Text am besten im Original zu verstehen ist.

 

Rainer Knab, 2006

Wilhelm Wiegand, 1859

Dr. Peter Denker, 2010

1

Es eignet jedem der seienden Dinge dreierlei, wodurch sich die Erkenntnis einstellen muß, das vierte aber ist sie selbst

Jedes der Dinge, die sind, hat dreierlei, durch welche es zu erkennen ist, ein Viertes ist das Verständnis von ihm,

Bei jedem Objekt oder Ereignis gibt es seit eh und je drei Momente, durch die sich seine vollständige geistige Erkenntnis schrittweise vollzieht: Das ist sein Name als erstes Moment, als zweites seine sprachlich formulierte Definition, als drittes das durch die physischen Sinne wahrnehmbare Bild. Hinzu kommt als viertes die begriffliche Erkenntnis als solche.

2

- als fünftes jedoch muß man eben das setzen, was genau das Erkennbare und wirklich Seiende ist -;

als ein Fünftes ist die wahre Wissenschaft zu setzen, durch die wir erkennen, was und wie es in Wahrheit ist.

Als fünftes ist schließlich das zu nennen, was sich erst durch vertiefte Anschauung mit dem Geist erkennen lässt, nämlich das wahre Urbild des Dinges an sich ist, also seine Idee.

3

das eine ist die Bezeichnung, das zweite die Definition, das dritte das Abbild, das vierte aber die Erkenntnis.

[B] Das erste davon ist der Name, das zweite ist die Erklärung, das dritte ist das Exemplar, das vierte ist das fassende Verständnis.

 

[s. unter 1]

4

Man erfasse nun ein einziges. wenn man das, was jetzt gesagt wird, verstehen will, und denke so über alles nach.

Wenn man nun das hier allgemein Gesagte deutlicher verstehen will, so fasse man es an einem besonderen Beispiel, und denke sich dann die Sache bei allen Dingen überhaupt.

Um das hier allgemein Gesagte verständlicher zu machen, wähle ich dafür ein einfaches Beispiel. Das lässt sich dann auf anderes entsprechend übertragen.

5

Ein Kreis ist etwas, was bezeichnet wird und dem eben dies als Bezeichnung eignet, was wir gerade ausgesprochen haben.

Kreis ist zum Beispiel ein sprachlich bezeichnetes Ding, [C] das eben den Namen hat, welchen wir eben laut werden ließen.

Kreis ist zum Beispiel ein sprachlich bezeichnetes Ding, das eben den Namen hat, den wir verwenden.

6

Seine Definition aber ist das zweite, zusammengesetzt aus Nomina und Verben;

Das Zweite von jenem Dinge würde die sprachliche ausgedrückte Erklärung sein, welche aus Nenn- und Aussagewörtern zusammengesetzt ist,

Das zweite Moment, seine Definition, ist aus Substantiven, Adjektiven und Verben zusammengesetzt

7

denn: ,,Was vom Rand bis zur Mitte an allen Punkten gleichen Abstand  hat", das dürfte die Definition sein für jenes, das die Bezeichnung Rundes, Ringförmiges und Kreis trägt.

zum Beispiel: ‚das von seinem Mittelpunkt überall gleich weit Entfernte’ wäre wohl die Erklärung von jenem Dinge, das den Namen Rund, Zirkel, Kreis hat.

und lautet zum Beispiel ‚Das ebene Objekt, dessen Punkte von seinem Mittelpunkt überall gleich weit entfernt sind’ als Erklärung von jenem Ding, das den Namen Rund, Zirkel oder Kreis hat.

8

Das dritte aber ist das, was gemalt und ausgewischt und gedrechselt und zerstört wird;

Das Dritte ist das in die Sinne wahrnehmbare Exemplar davon, zum Beispiel vom Zeichner oder vom Drechsler angefertigt, was sich wieder auslöschen und vernichten lässt,

Das Dritte ist das in den physischen Sinnen zugängliche Bild davon, zum Beispiel von einem Zeichner oder Drechsler angefertigt. Dieses Bild lässt sich wieder auslöschen oder vernichten.

9

nichts davon erfährt der Kreis selbst, um den herum dies alles ist, da er ja etwas anderes ist als dies.

Zufälle welchen der Begriff des Kreises an sich, mit dem alle jene Meister sich beschäftigen, nicht unterworfen ist, weil er etwas anderes und ganz davon Verschiedenes ist.

Dem ist Begriff des Kreises an sich nicht unterworfen, mit dem sich die Zeichner und Drechsler beschäftigt haben. Denn der Begriff ist etwas anderes als das Abbild und davon unbedingt zu unterscheiden.

10

Das vierte aber ist die Erkenntnis und das gedankliche Erfassen sowie die wahre Meinung von diesen Dingen;

[D] Das Vierte ist das dies zusammenfassende Verstehen, das Begreifen durch den Verstand, die wahre Vorstellung von solchen Dingen,

Das Vierte ist das vernünftige Erkennen, das Begreifen durch den vernünftig denkenden Geist.

11

man muß aber ferner dies Ganze als eines ansetzen, da es nicht in den Stimmen und auch nicht in den Körperformen, sondern in den Seelen steckt,

und diese ist eine, die nicht in äußerlichen sprachlichen Lauten, nicht in den der körperlichen Wahrnehmung zugänglichen Gestalten, sondern innerhalb der Seele ist,

Dem ist Begriff des Kreises an sich nicht unterworfen, mit dem sich die Zeichner und Drechsler beschäftigt haben. Denn der Begriff ist etwas anderes als das Abbild und davon unbedingt zu unterscheiden. Die wahre und umfassende Vorstellung von solchen Dingen bildet sich innerhalb der Seele. Sie ist weder gebunden an sprachliche Laute, noch an die der körperlichen Wahrnehmung zugänglichen Formen.

12

wodurch es deutlich etwas anderes ist als einerseits die Natur des Kreises selbst, andererseits die zuvor genannten drei Dinge.

und durch diese Innerlichkeit unterscheidet sich dieses Verständnis erstlich von dem Kreis an sich und zweitens auch von den drei vorhin Genannten.

Durch ihre Inwendigkeit unterscheidet sich diese Erkenntnis erstens von der Kreisform an sich und zweitens auch von den drei obigen Erkenntnis-Momenten.

13

Unter ihnen aber steht auf Grund von Verwandtschaft und Ähnlichkeit dem fünften das gedankliche Erfassen am nächsten, das übrige ist weiter entfernt.

Das Vermögen der Vernunft, das Fünfte, ist dem Kreis an sich an Verwandtschaft am nächsten, die anderen aber stehen weit zurück.

Unter den Erkenntnis-Momenten aber ist das vierte des zusammenfassenden Vermögens der Vernunft am nächsten verwandt dem Fünften, der Kreisform an sich; die ersten drei aber sind weit davon entfernt.

14

Genau dasselbe gilt gleichermaßen für Gerades und Kreisförmiges, Gestalt und Farbe, für das Gute, Schöne und Gerechte, für jeden künstlich verfertigten Körper und jeden, der auf natürliche Weise entstanden ist, für Feuer, Wasser und alles derartige, für jedes Lebewesen und den Charakter in den Seelen, für alle Taten und Widerfahrnisse:

Das hier beispielsweise vom Kreise Gesagte gilt nun natürlich überhaupt ebenso gut von der gradlinigen Figur und Zeichnung wie von der zirkelrunden und der mit Farben dargestellten, [E] vom Begriff Gut sowohl wie vom Schönen und Gerechten, von allem Körperlichen sei es Kunst- oder Natur- Produkt, von Feuer und Wasser und allen dergleichen Elementen, von jedem Geschöpfe der Tierwelt wie von jeder Verfassung der menschlichen Seele, von allen Ursachen und Wirkungen.

Das hier beispielsweise über den Kreis Gesagte gilt nun natürlich entsprechend für die gerade Linie oder die Farbe. Es gilt für die Begriffe des Guten, des Schönen und des Gerechten, für alle materiellen Dinge, seien es Kunst- oder Natur-Produkte, für Feuer und Wasser und alle übrigen Elemente, für jedes Geschöpf der gesamten Tierwelt wie für jede Individualität der menschlichen Seele, und entsprechend für alle Ursachen und Wirkungen.

15

Denn wenn einer davon nicht einigermaßen zumindest die vier Stufen erfaßt hat, wird er niemals vollkommen des Wissens um das fünfte teilhaftig sein.

Denn wenn jemand nicht die vier ersten auf irgendeine Weise innehat, so kann er des fünften nicht vollständig teilhaftig werden.

Wer nicht über alle vier ersten Erkenntnis-Momente verfügt, dem wird auch das fünfte Moment nicht vollkommen zuteil, nämlich das der ideellen Realität und geistig erkennbaren Wesenheit.

16

Da diese Erkenntnisstufen außerdem  versuchen, das „Was für ein" jedes einzelnen nicht weniger aufzuzeigen als das Seiende 343 jedes einzelnen wegen der Schwäche der Worte,

Außer den vorgenannten Aufschlüssen haben jene vier folgenden Nachteil: sie suchen nämlich nichts weniger, als das durch die Vernunft wahrnehmbare Wesen eines jeden durch die sinnliche Eigenschaft zu zeigen, [343 St.3 A] und zwar mit Hilfe der unzulänglichen sprachlichen Bezeichnungen.

Außerdem haben jene vier Momente noch einen weiteren Nachteil. Sie versuchen nämlich, das geistig wahrnehmbare Wesen der Objekte wie seine sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften zu fassen, [343] und zwar mit Hilfe der unzulänglichen sprachlichen Mittel.

17

wird deswegen keiner, der Verstand besitzt, es jemals wagen, das, was von ihm gedacht ist, darauf zu gründen, und zwar auf etwas Unveränderlichem, was genau ja dem in Buchstaben Geschriebenen widerfährt.

 

Aus diesem Grunde wird kein vernünftig gebildeter Mensch es je über sich gewinnen, die durch die reine Vernunft von ihm erfassten Wahrheiten in jene unzulänglichen sprachlichen Bezeichnungen zu setzen, zumal da diese etwas ganz Unbeholfenes sind, ein Missstand welcher bekanntlich bei den durch Buchstaben geschehenden Veröffentlichungen eintritt.

Deswegen wird kein vernünftig gebildeter Mensch es je schaffen, die durch die reine Vernunft von ihm erfassten Wahrheiten mit jenen unzulänglichen Sprach-Bezeichnungen zu formulieren. Denn deren ganze Unbeholfenheit ist ein Mangel, der bekanntlich allen schriftlichen Veröffentlichungen anhaftet.

18

Im Hinblick darauf aber muß man wiederum das, was gerade gesagt wird, verstehen:

Das hier allgemein Gesagte muss man sich wiederum an demselben Beispiel erläutern.

Das sollte man sich wieder am selben Beispiel klar machen:

19

Jeder Kreis von denen, die tatsächlich gemalt oder auch gedrechselt sind, ist voll von dem, was dem fünften entgegengesetzt ist - denn er rührt  überall an das Gerade -,

Jeder Kreis, welcher unter der Menschen Händen gezeichnet oder gedrechselt wird, hat sehr vieles vom Gegenteil dessen, welches mit den Fünfen gegeben ist, denn der sinnliche Kreis zeigt überall andere Stücke,

Jeder Kreis, der von Menschen-Händen gezeichnet oder gedrechselt wird, hat sehr Vieles vom Gegenteil des zum fünftes Erkenntnis-Moment Gehörigen. Denn der sinnliche Kreis hat überall etwas mit geraden Linien zu tun,

20

der Kreis selbst aber, sagen  wir, hat weder etwas Kleineres noch Größeres der entgegengesetzten Natur in sich.

 

dagegen hat der richtige Kreis schlechterdings [B] nichts von der gegenteiligen Natur an sich.

dagegen hat die Kreisform an sich in meiner Vorstellung gar nichts von Geradlinigkeit an sich.

21

Für nichts davon ist - so sagen wir - irgendeine Bezeichnung sicher, hindert doch nichts daran, daß das, was jetzt rund genannt b wird, gerade heißt und das Gerade folglich rund, und es wird ebenso beständig andauern für  diejenigen, die eine Bezeichnung verändert haben und es auf entgegengesetzte Weise benennen.

Nicht einmal der Name jener einzelnen in die Sinne fallenden Dinge hat dabei einen festen Bestand, und es hindert gar nichts die jetzt krumm genannten Dinge grad zu nennen und die graden krumm, und sie bleiben uns nach dieser Umänderung und entgegensetzten Benennung noch ebenso fest vorhanden.

Selbst den Namen jener sinnlich wahrnehmbaren Objekte kommt kein fester Bestand zu. Nichts hindert, die jetzt krumm genannten Dinge gerade zu nennen und umgekehrt, bleiben sie doch nach dieser Umbenennung in ihrem Bestand unverändert.

22

Und weiter gilt für eine Definition dieselbe Aussage, wenn sie denn aus Nomina und Verba besteht, daß nämlich nichts Sicheres hinreichend sicher ist.

Dieselbe Betrachtung gilt vom sprachlichen Ausdruck oder der Begriffserklärung. [C] Insofern sie aus der Zusammensetzung von Nenn- und Aussagewörtern besteht, so ist gar nichts vollkommen Festes daran.

Gleiches gilt für die Definition eines Dinges mit sprachlichen Wendungen, die aus Substantiven, Adjektiven und Verben zusammengesetzt sind. Auch daran ist gar nichts unveränderlich festgelegt.

23

Tausendfältig aber ist ferner die Aussage über jede der vier Stufen, wie unsicher sie ist,

Und so lässt sich tausendfach von jedem der vier nachweisen, dass es dabei kein deutlich Festes gibt.

Und so lässt sich von jedem der vier Erkenntnis-Momente vielfältig nachweisen, dass es dabei keine hinlängliche Zuverlässigkeit gibt.

24

das Wichtigste aber, was wir ja kurz vorher angesprochen haben, ist, daß

Das Ärgste hierbei ist, was wir schon oben berührt haben,

Das Ärgste hierbei betrifft - wie schon angedeutet - die Seele.

 

25

(da es zweierlei gibt, nämlich das Seiende und das „Was für ein", und da die Seele nicht das „Was für ein", sondern das c

„Was" zu wissen sucht) jede der vier Stufen das, was nicht gesucht wird, der Seele vorhält im Wort und der dinglichen Wirklichkeit, jede das, was gesagt und gezeigt wird, für die Sinne stets leicht widerlegbar macht und somit sozusagen jedermann mit aller Ratlosigkeit und Unsicherheit erfüllt.

während nämlich die Seele von den zwei Seiten des Seins, das nicht sinnlich wahrnehmbare wesenhafte Sein und die sinnlich wahrnehmbare Beschaffenheit eines Wesens, nicht nach der sinnlichen Beschaffenheit, sondern nach dem wesenhaften Sein strebt, so hält jedes der vier in derselben Seele, sowohl im Reiche des Gedankens wie in dem der Wahrnehmung zuvor, das nicht Gesuchte, die sinnliche Beschaffenheit, vor und erfüllt dadurch jeden Menschen mit jeder Art von Zweifel und Unklarheit, weil allemal ein jedes der erwähnten vier durch sinnliche Worte oder Zeichen Ausdrückbare [D] als etwas für leibliche Sinne leicht Fassliches dazwischen schiebt.

Jeder Seele sind zwei Seiten des Seins eigen, nämlich das nicht sinnlich wahrnehmbare wesenhafte Sein - ihre Essenz und die sinnlich wahrnehmbare Beschaffenheit ihres Wesens - ihre Qualität. Indem die Seele nicht nach ihrer Qualität sondern nach ihrer Essenz strebt, führen die vier Erkenntnis-Momente die Seele praktisch und gedanklich statt zur gesuchten Essenz nur zur Qualität, eben der sinnlichen Beschaffenheit.

Das erfüllt jeden Menschen mit Zweifel und Unklarheit, weil immer jedes der vier Momente etwas dazwischen schiebt, was durch Worte oder Zeichen formulierbar und für die physischen Sinne leicht erkennbar ist.

26

Wo wir nun wegen schlechter Erziehung nicht gewohnt sind, das Wahre zu suchen, sondern uns mit dem vorgehaltenen Abbild begnügen, werden wir einander nicht zum Gegenstand von Spott, die Befragten denen, die Fragen stellen, da sie doch nur die vier Stufen durcheinanderwerfen und widerlegen können;

Bei diesen Untersuchungen sind wir nun in Folge schlechter Erziehung nicht einmal gewöhnt, nach der reinen, nicht sinnlichen Wahrheit zu forschen, und daher genügt schon das vorgeschobene wahrnehmbare Abbild, da werden wir bei Fragen und Antworten darüber voneinander gar nicht lächerlich befunden, und die Fragenden vermögen nur im Gebiete der ersten vier zu widerlegen und des Irrtums zu überführen.

Leider sind wir infolge schlechter Erziehung nicht einmal gewöhnt, bei solchen Problemen nach der reinen, nicht sinnlichen Wahrheit zu forschen. Darum neigen wir dazu, uns schon zufrieden zu geben mit dem vordergründigen, sinnlich wahrnehmbaren Abbild des ewigen Urbildes. Ja wir werden bei Diskussionen darüber gegenseitig nicht einmal als lächerlich befunden. Die Fragesteller können überhaupt nur auf der Ebene der ersten vier Erkenntnis-Grade argumentieren beziehungsweise einen Irrtum aufweisen und widerlegen.

27

wo wir dagegen das fünfte zu beantworten und aufzuzeigen zwingen, behält jeder beliebige von denen, die widerlegen können, die Oberhand

Bei welchen Dingen aber wir in Bezug auf das Fünfte zu antworten und Erklärungen zu geben nötigen, da ist dann nur einer derer, welche hier mit dem Widerlegen umgehen können, [E] wenn er will, der Meister,

 

Wo wir aber in Bezug auf das fünfte Moment Antworten und Erklärungen wünschen, da ist dann nur derjenige ein Meister, der hier mit dem Widerlegen umgehen kann und mag.

28

und bewirkt, daß derjenige, der in Reden oder Schriften oder Wechselgesprächen Ausführungen macht, den meisten Zuhörern nichts von dem zu verstehen scheint, was er schriftlich oder mündlich auszuführen versucht, da sie zuweilen verkennen, daß nicht die Seele dessen, der geschrieben oder gesprochen hat, widerlegt wird, sondern die Natur der vier Stufen jedes einzelnen, weil sie schlecht beschaffen ist.

und stellt allemal den, welcher nur in definierenden Ausdrücken der Sprache sei es durch Schrift oder durch mündliche Antwort sich darüber erklären will, bei der Mehrheit des zuhörenden Publikums als einen Ignoranten dessen hin, worüber er durch schriftliche oder durch mündliche Sprachzeichen sich auszudrücken versucht. Manchmal indessen wissen die Widerlegungskünstler gar nicht, dass nicht das Wesen dessen, der sich durch schriftliche oder mündliche Sprachzeichen über jenes Fünfte ausgesprochen hat, die Widerlegung trifft, welches hierfür unzulänglich ist, sondern die ursprüngliche Fehlerhaftigkeit jener Vier.

Manch einer will sich nur mit mündlichen oder schriftlichen Definitionen äußern. So einen stellt der Meister bei den meisten Zuhörern als jemanden bloß, der gar keine Ahnung davon hat, worüber er sich sprachlich auszudrücken versucht. Manchmal aber merken die Widerlegungs-Künstler gar nicht, dass ihre Argumentation eigentlich gar nicht die Seele dessen trifft, der sich schriftlich oder mündlich über das fünfte Moment geäußert hat. Stattdessen heben sie bloß auf die Fehlerhaftigkeit jener vier Erkenntnis-Momente ab, die die gottgewollt hierfür unzulänglich sind.

29

Die Führung durch sie alle, nach oben und unten zu jeder einzel nen weitergehend, bringt erfahrungsgemäß unter Mühen in einem, der wohl beschaffen ist, Erkenntnis des Wohlbeschaffenen hervor;

Ja der durch alle jene Erkenntnisstufen mit Anstrengung und oft wiederholte Gang der Überlegungen erzeugt nur wirklich eine Erkenntnis vom ursprünglich vollkommen Wesenhaften bei dem Denker, welcher mit den jenem Wesenhaften verwandten Eigenschaften geboren ist.

Ein noch so intensives und andauerndes Bemühen kann zur Erkenntnis vom ursprünglich vollkommen Wesenhaften nur solch einen Denker führen, der mit eben den guten Eigenschaften geboren ist, die jenem Wesenhaften verwandt sind.

30

wenn er aber schlecht beschaffen ist, wie die Haltung der Seele bei der Mehrheit im Hinblick auf das Lernen und den sogenannten Charakter beschaffen und somit verdorben ist, derartige könnte nicht einmal Lynkeus sehend machen.

 

Wer dagegen mit schlechten Eigenschaften geboren ward, wie der Seelenzustand der großen Masse des Volkes, sowohl in Absicht auf theoretisches Studium, als auch auf praktische Erwerbung der so genannten Sittlichkeit, von Hause aus beschaffen und zum Teil auch verhunzt worden ist, [344 St.3 A] solche Leute würde nicht einmal Lynkeus zur Einsicht verhelfen können.

Wer dagegen mit schlechten Eigenschaften geboren ist, [344] wie sie dem Seelen-Zustand der breiten Masse inne wohnen, solch einen Menschen würde nicht einmal Lynkeus zur Anschauung des ewig wahren und Wesenhaften hinführen können. Deren Zustand ist nämlich von Hause aus so beschaffen und zum Teil auch verhunzt worden, dass er weder zu einem theoretischen Studium noch zum praktischen Erwerb der so genannten Sittlichkeit taugt.

31

Mit einem Wort: Denjenigen, der mit der Sache nicht verwandt ist, dürften weder gute Lernbegabung noch Gedächtnis jemals wissend machen

Kurz und gut: Wer nicht innerlich mit der Philosophie verwandt ist, dem kann weder leichte Fassungsgabe noch ein gutes Gedächtnis diese Eigenschaft ersetzen,

Kurz und gut: Wer nicht innerlich mit der Philosophie verwandt ist, kann diese Eigenschaft weder durch leichte Auffassungsgabe noch durch ein gutes Gedächtnis ersetzen.

32

- denn unter anderen Voraussetzungen entsteht Wissen überhaupt nicht-,

denn überhaupt kann sie bei widerstrebender Geistesrichtung nicht ins Leben treten.

Philosophie kann sich überhaupt nicht entfalten, wenn die Geisteshaltung ihr widerstrebt.

33

sodaß alle, die mit dem Gerechten und allem anderen, was schön ist, nicht verwachsen und verwandt sind, sondern die teils hierzu, teils dazu begabt und zugleich mit einem guten Gedächtnis ausgestattet sind, und auch nicht all diejenigen, die zwar verwandt, aber unbegabt und ohne gutes Gedächtnis sind, sodaß also keiner von diesen sicherlich jemals die Wahrheit über Tugend und Schlechtigkeit - soweit es überhaupt möglich ist - erlernt.

Daraus geht das Folgende hervor: Alle welche keine innere Empfindung und Verwandtschaft für Gerechtigkeit und alles andere Höhere bei vorhandenen Fassungs- und Gedächtnisgaben besitzen, [B] ebenso die, welche jene Verwandtschaft, aber in Verbindung mit schwerer Fassungsgabe und einem schlechten Gedächtnisse haben, alle diese werden niemals das wahre Wesen der Tugend und des Lasters begreifen.

Daraus leitet sich folgender Satz her: Alle diejenigen werden niemals das wahre Wesen von Tugend und Laster begreifen, die kein Empfinden für und keine Affinität zur Gerechtigkeit haben, selbst wenn sie unter anderem besondere Auffassungs- und Gedächtnisgaben besitzen. Und denen geht es genauso, die zwar jene Verwandtschaft, aber nur eine schwerfällige Auffassungsgabe und ein schlechtes Gedächtnis haben.

34

Denn man muß diese beiden zugleich lernen und zugleich das        Falsche und Wahre der gesamten Seinswirklichkeit mit ganzer, aufreibender Anstrengung und viel Zeit, was ich ja anfangs sagte;

Denn zugleich muss man jene beide Gebiete studieren, sowohl das Unwahre als auch das Wahre des ganzen Seins mit allem Mühe- und Zeitaufwand, wie ich schon von Anfang bemerkte.

Denn wie schon anfangs angemerkt muss man sowohl das Unwahre als auch das Wahre des ganzen Seins zugleich intensiv und zeitaufwendig studieren.

 

35

die einzelnen Dinge davon aber - Benennungen und Definitionen, Anblicke und Sinneswahrnehmungen - werden unter Mühen aneinander gerieben, sie werden unter wohlwollenden Widerlegungen widerlegt, indem wir ohne Neid Fragen und Antworten gebrauchen, und es leuchten dann erfahrungsgemäß Einsicht und gedankliches Erfassen im Umfeld eines jeden Seienden auf, wenn der Mensch sich - soweit menschenmöglich - anstrengt.

Und wenn erst durch fleißige gegenseitige Vergleichung der Namen, [C] der erklärenden Beschreibungen mittels der Sprache und der Anschauungen und Wahrnehmungen, ihre Aussagen vom Wesen der Dinge in leidenschaftslosen Belehrungen berichtigt werden, und wenn wir hierbei ohne leidenschaftliche Rechthabereien die rechte dialektische Methode anwenden, dann erst geht uns das Licht der geistigen Wahrnehmung und der reinen Vernunftauffassung des Wesens der Dinge auf.

Das Licht der rein geistigen Wahrnehmung und der geistigen Erkenntnis vom inneren Wesen der Dinge geht uns erst folgendermaßen auf: Es müssen durch akribisches Miteinander-Vergleichen die Namen, die sprachliche Definitionen, sinnlichen Anschauungen und Wahrnehmungen im Bezug auf ihren Aussagegehalt über das Wesen der Dinge in leidenschaftslosen Diskussionen entwickelt werden.

Und dabei muss die rechte dialektische Methode ohne leidenschaftliche Rechthaberei zur Anwendung gelangen.

36

Gerade deshalb ist jeder ernsthafte  Mann  weit davon  entfernt, c  über die bedeutenden Dinge jemals etwas zu schreiben und so unter den Menschen der Mißgunst und Ratlosigkeit auszusetzen.

[D] Darum nun ist jeder ernste Mann, der kein Mietling der Wissenschaft ist, weit entfernt über ernste, hochwürdige Gegenstände seine Gedanken durch die Schrift zu veröffentlichen und dadurch sie der Schwatzsucht und Herabwürdigung preis zu geben.

Darum hüte sich jeder ernste Mann, wenn er nicht gerade ein Wissenschaftler ist, seine philosophischen Einsichten zu veröffentlichen und sie dadurch dem Geschwätz und der Herabwürdigung des Pöbels preiszugeben.

37

Daraus muß man also - mit einem Wort - erkennen (sooft einer irgendjemandes zu Papier gebrachte Aufschriebe sieht, sei es bei den Gesetzen eines Gesetzgebers oder was auch immer bei irgendetwas anderem), daß dies für diesen nicht das Wichtigste war, wenn er selbst wirklich ein ernsthafter Mann ist, sondern daß es irgendwo am schönsten seiner Orte liegt;

Was aus diesen Betrachtungen zu entnehmen ist, das ist mit einem Worte folgendes: wenn einer von jemandem schriftliche Veröffentlichungen, sei es über Gesetze von einem Gesetzgeber oder seien es über andere Gegenstände sonst welche Schriften, in seine Hand bekommt, so muss er denken, dass dies die besten Gedanken bei dem noch nicht sind, sofern er selbst kein unwürdiger Mensch ist, sondern dass jene am schönsten Plätzchen seiner Habe aufbewahrt liegen.

Aus diesen Betrachtungen ergibt sich kurz folgendes: Wenn jemand schriftliche Veröffentlichungen in die Hand bekommt, seien es nun Gesetze oder sonstige Schriften über andere Gegenstände, so muss er sich darüber im Klaren sein, dass dies noch nicht die besten Gedanken des Autors sind. Denn die wird doch der Autor um seiner Würde willen lieber am schönsten Plätzchen bei seiner Habe aufbewahren.

38

wenn aber wirklich dies von ihm ernsthaft Ersonnene in Buchstaben niedergelegt wurde. ,,dann also haben sicherlich" - nicht die Götter, sondern die Sterblichen - ,,selbst seine Sinne zugrunde d gerichtet."

Sollten aber von jenem diese seine achtenswertesten Gedanken in Schriften profaniert worden sein, nun, so mache man dann den Schluss, dass nicht Götter, sondern sterbliche Menschen allein ihn aller Findungs- und Überlegungskraft beraubt haben.

Sollte ein Autor aber seine achtenswertesten Erkenntnisse in Schriften profaniert haben, ist zu schlussfolgern, dass nicht etwa Götter sondern bloß sterbliche Menschen ihn aller Sensibilität und Weitsicht beraubt haben.