Dem9.12-15 Protokoll zum 24.09.22

Zeit: 10:00 – 12:10 Uhr                                                                Ort: online

anwesend: Caren, Holger, Friedrich                                        Holger hat sich vorübergehend abgemeldet.

Anfangs haben wir überlegt, auf welchem Wege wir weitere Teilnehmer/innen gewinnen können. Caren will einen Screenshot schicken und Friedrich wird ein kleines Video vorbereiten.

Für die Übersetzung haben wir die alte Methode der Kola-Abtrennung angewandt, d.h. den Fließtext durch Zeilenbildung in Kola aufgeteilt. 

 

 

 

 

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[12] καὶ μὴν καὶ Φερὰς

πρώην ὡς φίλος καὶ σύμμαχος εἰς Θετταλίαν ἐλθὼν

ἔχει καταλαβών,

καὶ τὰ τελευταῖα τοῖς ταλαιπώροις Ὠρείταις τουτοισὶ

ἐπισκεψομένους ἔφη τοὺς στρατιώτας πεπομφέναι κατ᾽ εὔνοιαν·

πυνθάνεσθαι γὰρ αὐτοὺς[1] ὡς νοσοῦσι καὶ στασιάζουσιν,

συμμάχων[2] δ᾽ εἶναι καὶ φίλων ἀληθινῶν

ἐν τοῖς τοιούτοις καιροῖς παρεῖναι.

Und außerdem,

obwohl (als) er neulich als Freund und Bundesgenosse nach Thessalien gekommen ist,

hat (besitz) er auch Pherai eingenommen,
und schließlich ^sagte er^ diesen leidgeplagten Orietern hier,
um sich <um sie> zu kümmern, °° habe er die Soldaten aus Freundlichkeit geschickt;

denn er erfahre, dass sie schwach seien und in Aufruhr,

es gehöre sich aber für Bundesgenossen und wahre Freunde,

bei solchen Gelegenheiten beizustehen.

 

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[13] εἶτ᾽ οἴεσθ᾽ αὐτόν, [3]οἳ ἐποίησαν μὲν οὐδὲν ἂν[4] κακόν,

μὴ παθεῖν δ᾽ ἐφυλάξαντ᾽ ἂν ἴσως,

τούτους μὲν ἐξαπατᾶν αἱρεῖσθαι μᾶλλον ἢ προλέγοντα βιάζεσθαι,

ὑμῖν δ᾽ ἐκ προρρήσεως πολεμήσειν,
καὶ ταῦθ᾽ ἕως ἂν ἑκόντες ἐξαπατᾶσθε;

Da glaubt ihr, dass er, ^diejenigen^, die <ihm> wohl nichts Böses angetan hätten,
aber um es nicht zu erleiden, sich vielleicht auch vorgesehen hätten,
°° zu täuschen eher vorzieht als sie mit Vorankündigung zu unterdrücken,
<dass er> euch aber nach Vorankündigung mit Krieg überziehen werde,
und dies, solange ihr euch freiwillig täuschen lassen solltet?

 

15

 

 

 

 

20

[14] οὐκ ἔστι ταῦτα·

καὶ γὰρ ἂν ἀβελτερώτατος εἴη πάντων ἀνθρώπων,

εἰ

τῶν ἀδικουμένων ὑμῶν[5] μηδὲν ἐγκαλούντων αὐτῷ,

ἀλλ᾽ ὑμῶν αὐτῶν τινὰς αἰτιωμένων,

ἐκεῖνος ἐκλύσας τὴν πρὸς ἀλλήλους ἔριν ὑμῶν καὶ φιλονικίαν[6]

ἐφ᾽ αὑτὸν προείποι τρέπεσθαι,

καὶ τῶν παρ᾽ ἑαυτοῦ μισθοφορούντων[7] τοὺς λόγους ἀφέλοιτο,

οἷς ἀναβάλλουσιν ὑμᾶς, λέγοντες ὡς ἐκεῖνός γ᾽ οὐ πολεμεῖ τῇ πόλει.

Das kann nicht sein.

Denn er wäre wohl der Einfältigste aller Menschen,
wenn

^jener^, da wir, als diejenigen, die doch Unrecht erleiden, ihm keinerlei Vorwürfe machen,
sondern einige von uns selbst beschuldigen,

unseren Zank und Streit beendete und (BO)

öffentlich bekannt gäbe, dass er ihn (den Streit) gegen sich selbst wende,

und den von ihm bezahlten Leuten die Argumente entziehe,

mit denen sie uns hinhalten und sagen, dass jener doch nicht Krieg gegen die Stadt beginnt.

 

 

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30

[15] ἀλλ᾽ ἔστιν, ὦ πρὸς τοῦ Διός, ὅστις εὖ φρονῶν

ἐκ τῶν ὀνομάτων μᾶλλον ἢ τῶν πραγμάτων

τὸν ἄγοντ᾽ εἰρήνην ἢ πολεμοῦνθ᾽ αὑτῷ σκέψαιτ᾽ ἄν;

οὐδεὶς δήπου.

ὁ τοίνυν Φίλιππος ἐξ ἀρχῆς, ἄρτι τῆς εἰρήνης γεγονυίας,

οὔπω Διοπείθους[8] στρατηγοῦντος

οὐδὲ τῶν ὄντων ἐν Χερρονήσῳ νῦν ἀπεσταλμένων[9],

Σέρριον καὶ Δορίσκον[10] ἐλάμβανε

καὶ τοὺς ἐκ Σερρείου τείχους καὶ Ἱεροῦ ὄρους[11] στρατιώτας ἐξέβαλλεν,

οὓς ὁ ὑμέτερος στρατηγὸς κατέστησεν.

Aber, bei Zeus, gibt es jemanden, der bei vollem Verstande

nach den Worten eher als nach den Taten

beurteilen möchte, ob (dass) er Frieden hält oder gegen ihn Krieg führt?

Keinen doch wohl.

Philipp jedenfalls hat gleich zu Anfang, als der Frieden gerade geschlossen war

und Diopeithes noch nicht den Oberbefehl innehatte

und auch die jetzt in der Chersonnes befindlichen <Truppen noch> nicht entsandt waren,

Serrion und Doriskon eingenommen

und die Soldaten aus Serriou Teichos und Hieron Oros vertrieben,

die unser Feldherr eingesetzt hatte.

 

Was uns auffiel:

  1. Z. 3: Φερὰς ἔχει καταλαβών – übrigens ein schönes Beispiel für die Konstruktion ἀπὸ κοινοῦ (beide Verben haben dasselbe AO Φερὰς) –
            Die Reihenfolge der beiden Verben ist nicht durch die zeitliche Abfolge bestimmt, sondern das ἔχει „er besitzt“ wird durch das καταλαβών „durch Einnahme“
           genauer bestimmt; in deutscher Kurzfassung „er hat (besitzt) es eingenommen“. Es ist also nicht ganz richtig, diese Koppelung als Hysteron-proteron anzusehen.
  2. Z. 6: πυνθάνεσθαι – Wo steckt der Subjekts-Akkusativ des AcI? Antwort: Es gibt keinen. Auch das vorherige parallele πεπομφέναι braucht keinen Subj.A;
           beides sind bloße Infinitive, im Dt. nachahmbar: Ersagte, Soldaten geschickt zu haben und zu erfahren …
  3. Konsquenz aus 1 und 2:
    Wir müssen uns abgewöhnen, jeden Infinitiv als Teil eines AcI aufzufassen und gleich mit „dass …“ zu übersetzen. Häufig reicht auch im Deutschen der bloße Infinitiv.
    Wir müssen uns abgewöhnen, jedes prädikative Partizip mit „indem …“ zu übersetzen. Häufig bietet sich im Dt. ein präpositionaler Ausdruck an, der der griechischen Nominal-Formulierung sehr viel näher kommt als ein Nebensatz.  
  4. πυνθάνει αὐτοὺς[12] ὡς νοσοῦσι „er bemerkt sie, dass sie schwach sind“ = πυνθάνει ὡς (αὐτοὶ) νοσοῦσι „Er bemerkt, dass sie schwach sind“ –
    Prolepsis: Das Subjekt des Objektsatzes ὡς νοσοῦσι wird als AO vorgezogen.
    Übrigens: Ich habe (αὐτοὶ) in Klammern gesetzt, weil das streng genommen falsch ist. Im Nominativ ist αὐτός kein Personalpronomen, sondern steht als „selbst, unmittelbar“ prädikativ zum Subjekt. Erst im „schiefen“ Kasus und alleinstehend (also ohne Bezug auf ein Nomen im gleichen Kasus) wird es zum Personalpronomen.
  5. Holger stellt fest, dass Demosthenes weite Sperrungen und die Voranstellung von Relativsätzen (vgl. „Wer schreibt, der bleibt“) liebt. Das unterscheidet sich aber nicht von anspruchsvollen deutschen Sätzen. Allerdings sind die griechischen „Hyperbata“ sehr wohl mit den Prädikatsklammern in einem dt. Text mittleren Anspruchs vergleichbar. Ich erinnere an Mark Twains lustige deutsche Beispielsätze und bilde selbst einmal einen:
    „Da hat doch tatsächlich mein bester Freund, der wilde Schürzenjäger, mit meiner Freundin, die sich während meiner Geschäftsreise offensichlich langweilte, in dieser letzten Nacht meiner Abwesenheit, ohne mich vorher um Erlaubnis zu fragen, stundenlang … Schach gespielt.“
    Hier ist es die erweiterbare Prädikatsklammer von „hat“ bis „Schach gespielt“, die den Hörer recht lange im Ungewissen lässt. Die Prädikatsklammer hilft aber, die Beziehung der Wörter zueinander zu verdeutlichen. Diese Regel brauchen die antiken Griechen nicht. Ein Beispiel von Euripides: πόνος πόνῳ πόνον φέρει. „Not bringt Not Not.“ Die Reihenfolge der vier Wörter ist im Gr. (grammatisch gesehen) völlig beliebig; denn die Flexionsendungen klären ihre Zuordnung eindeutig. Unklar bleibt nur die Funktion des Dativs in πονῷ: Objekt? Instrumentalis? Kausalis? (Klar ist aber: Der Notleidende gerät immer mehr in den Strudel wachsender Not.)

Im Deutschen sind alle Flexionsformen gleichlautend; daher muss die Prädikatsklammer (hier nur die Satzstellung: finite Verbform in jedem Falle an zweiter Satzgliedstelle) die Zuordnung einigermaßen klären. Sie legt immerhin nahe, welches „Not“ als Nominativ zu verstehen ist, und sie macht klar, dass das zweite „Not“ der Dativ sein muss.
Fazit:

Im längeren gr. Sätzen können Sperrungen verhältnismäßig frei hergestellt werden, und zwar mit Hilfe der oft eindeutigen Zuordnung durch die Flexionsendungen; im Dt. sind die Flexionsendungen wenig hilfreich; hier tritt als Regelprinzip für Zuordnungen die Verbalklammer ein. Aber Sperrungen gibt es hier wie dort, nur eben unterschiedlich geregelt. Und beim Übersetzen müssen wir zuerst die griechische Struktur in ihrer Reihenfolge erfassen, bevor wir das Erfasste ins deutsche Regelkorsett übertragen. Wenn wir zuerst nach dem finiten Verb und dem zugehörigen Subjekt suchen, machen wir aus dem gr. Text ein Puzzle für deutsche Satzregeln: Ich suche das Prädikat φέρει und dazu das Subjekt πόνος, bilde damit das Gerüst „Not bringt …“ und füge den Rest als weitere Satzglieder nach dem finiten Verb ein. Damit ist der eigentliche Charme des griechischen Satzverlaufs zerstört.
Konsequenz:

Ich möchte dann doch in der nächsten Sitzung wieder die mikro-lineare Methode anwenden. Denn sie zwingt uns, die die Zuordnung regelnden Flexionsendungen sofort genau zu analysieren oder zu erkennen.

  1. Nachtrag zur Rhetorik:
    Wir haben zwar immer wieder Satzfiguren wie das Hyperbaton oder den Chiasmus benannt, aber noch nie eine Wortfigur (Tropos, uneigentlicher Begriff). Im Beispielsatz des Euripides ist die „Not“ zuerst eine Allegorie (die Not handelt wie eine übermenschliche Person), dann eine Synekdoche (mit Not sind die Notleidenden gemeint), dann der eigentliche Begriff.

Nächster Termin: Sonnabend, 1.10.22, 17:00 Uhr

Vorbereitung dazu wie üblich.
Und wir wollen an unserer „Einladung“ weiterarbeiten. Carens Screenshot ist sehr schön geworden und bringt mich auf die Idee, dergleichen auch als Video aufzunehmen.
Das geht leider nicht mit dem schulischen BBB, da das aus guten Gründen grundsätzlich keine Mitschnitte erlaubt. Ich werde dazu mal Zoom oder Teams ausprobieren und Euch Bescheid geben.
Was besonders schön wäre: wenn Ulf dafür mal kurzfristig zur Verfügung stünde. Ich werde ihn fragen.

 


[1] πυνθάνεσθαι γὰρ αὐτοὺς ὡς νοσοῦσι Prolepsis, lies· πυνθάνεσθαι γὰρ ὡς αὐτοὶ νοσοῦσι

[2] συμμάχων Gen. possessivus

[3] wie in [2]: οἳ ... τούτους lies: τούτους, οἳ …

[4] ἄν Potentialis der Vergangenheit

[5] ὑμῶν Apposition zu τὡν ἀδικουμένων

[6] τὴν ... ἔριν ὑμῶν καὶ φιλονικίαν: AO sowohl zu ἐκλύσας als auch zu τρέπεσθαι (constructio ἀπὸ κοινοῦ)

[7] μισθοφορούντων gemeint sind die promakedonische Parteigänger wie Aischines und Eubulos

[8] zu Διοπείθης s. die hist. Situation

[9] ἀπεσταλμένων erg. στρατιωτῶν

[10] Σέρριον καὶ Δορίσκον s. Der neue Pauly s.v.  dazu Aischines: Σέρριον τεῖχος καὶ Δορίσκον καὶ Ἐργίσκην καὶ Μυρτίσκην καὶ Γάνος καὶ Γανιάδα, χωρία ὧν οὐδὲ τὰ ὀνόματα ᾔδεμεν πρότερον

[11] Ἱερὸν ὄρος liegt an der Küste der Propontis (Marmarameer) an der Wurzel der Chersones.

[12] πυνθάνεσθαι γὰρ αὐτοὺς ὡς νοσοῦσι Prolepsis, lies· πυνθάνεσθαι γὰρ ὡς αὐτοὶ νοσοῦσι