pDem_Interpretation_H_Strohm

Für Eilige: S. 4, Mitte bis S. 5

Gymnasium 69 (1962), S. 326-335

EINE DEMOSTHENES-INTERPRETATION

Von HANS STROHM

Politische Ideen und politische Wirklichkeit bei Demosthenes: die Nachwelt hat hier lange Zeit eine ideale Symmetrie zu sehen geglaubt. Was Demosthenes in den Jahren seiner Staatsmannschaft, insbesondere im letzten Jahrzehnt vor Chaeronea, seinem Volk an politischen Situationen vorgeführt und gedeutet hat, das galt als die Leitlinie der Geschichte des 4.Jh. schlechthin; und was in den großen Staatsreden an Gedankengut zutage trat, darin sprach sich doch, für jeden Gutgesinnten vernehmlich, die höchste aller politischen Ideen aus - die Idee der Bürgerfreiheit ... So hat im wesentlichen ein ganzes Jahrhundert geurteilt, und nicht mit der Stimme der Urteilslosen, sondern derjenigen - englischen, französischen, deutschen - Gelehrten, denen wir die solidesten Kommentare zu dem Redner, den Wortindex, die umfassendste Darstellung seines Lebens und schließlich auch den besten Text verdanken. Demosthenes gegen Philipp -: damit schien eine überzeitliche, geradezu mythische Situation angesprochen, an der sich die Freunde des Altertums - Dichter und Philologen - erbauten, wenn es in ihrer eigenen Zeit um Freiheit ging. So erneute sich für Hölderlin die Zeit der Philippischen Reden angesichts der neugriechischen Aufstandsversuche, und Chaeronea erschien als überzeitliches Paradigma, „da mit Waffen ins Blut die letzten Athener enteilten, fliehend vor dem Tage der Schmach. . .“ (›Der Archipelagus<, um 1800), so bestimmte für die Philhellenen Friedrich Thiersch in München, Ludwig Döderlein in Erlangen (er hat 1848 die 1. Olynthische Rede glänzend übersetzt) Demosthenes die Auffassung der Gegenwart. Noch zu Beginn unseres Jahrhunderts vertraten sich im Geschichtsunterricht der Gymnasien wechselweise Demosthenes und der Freiherr vom Stein, Philipp und Napoleon. Damals hatte in der Forschung die kritische Neubesinnung bereits eingesetzt, die durch die Namen etwa von Eduard Meyer und Julius Beloch, von Wilamowitz und Paul Wendland bezeichnet werden

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kann. Es kam zu eingreifenden Akzentverschiebungen; Isokrates trat bedeutsam hervor, der persische Einfluß zeigte sich als eine nicht mehr zu übersehende Leitlinie in der griechischen Politik jener Zeit. Für das ganze Redner-Corpus der philippischen Epoche wurde ein neues Verständnis gewonnen, indem man auf die literarische Manipulierung der keineswegs nur für den einen Abstimmungstag in der Ekklesie geschaffenen Texte aufmerksam wurde; Wendland nannte sein wichtiges Buch von 1910 ›Beiträge zur athenischen Publizistik˓, und Wilamowitz bezeichnete die 11. Rede der demosthenischen Sammlung (die er damals noch für echt hielt) ungescheut als einen „ebenso geschickten wie perfiden Zeitungsartikel“ (Aristoteles und Athen, 1893, S. 215,5). - Sind nun die „Ernüchterungshistoriker“ - wie sie Richard Harder einmal etwas spitzig betitelt hat - der politischen Wirklichkeit des 4. Jh., die von der monumentalisierenden und moralisierenden Auffassung früherer Generationen verstellt war, tatsächlich nähergekommen? Sie waren zumindest nicht gefeit gegen eine Denkforrn, die wiederum ihrem eigenen Gegenwartserleben entstammte und der gemäß König Philipps Griechenlandpolitik der preußischen zu entsprechen schien, die zu der Reichseinigung von 1871 führte. Hierbei konnte Demosthenes freilich nur als ein Hemmschuh der wirklich wichtigen und bewegenden politischen Kräfte erscheinen, etwa vom Schlage eines deutschen Kleinstaatspolitikers um 1860. Der z. T. scharfen Abwehr durch ausländische Forscher hat sich in seinem suggestiven Demosthenes-Buch von 1939 Werner Jaeget angeschlossen; ihm schien der Maßstab, den Julius Beloch und seine Schule anlegten, schlechthin ungeschichtlich (Dem., 1939, S. 3). Jaeger hat denn auch den Mut gehabt, offen zu der Auffassung der älteren Demosthenes-„Orthodoxie“ zurückzutreten und die hohe sittliche, „volkserzieherische“ Bedeutung der großen Staatsreden zu feiern (Paideia III, 1947, S. 459, Anm. 46, u. ö.).

So würde sich denn der Ring schließen; wir hätten, wie es der deutsche Humanismus vor hundert Jahren so gern fomiulierte, in dem großen Redner den Bundesgenossen Platons vor uns und müßten bei beiden im Grunde das gleiche tragische Mißverhältnis von „politischer Idee“ und „politischer Wirklichkeit“ konstatieren.

Hier liegt offenbar ein Problem vor, und es ist gewiß nicht mit dem Hinweis zu erledigen, daß Jaegers Demosthenesbild nur wenige überzeugt hat. Eine Rückkehr ins vorige Jahrhundert scheint in der Tat

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boten - eine Rückkehr zu Leonhard Spengel, meine ich, der sich den Weg zu dem großen Athener von des Demosthenes Beruf her gebahnt hat. Der Münchner Spengel war seit Reiske der erste gewesen, der die Schriftenmasse der antiken Redetechniker gründlich durchgearbeitet hatte; ihm war 1844 die Edition und vorzügliche Erläuterung der für die Rednerpraxis der Zeit so aufschlußreichen ›Rhetorik˓ des Anaximenes von Lampsakos zu danken; er hat dann gegen Ende seines Lebens in zwei überlegen geführten Akademie-Abhandlungen (1856. 1859) die Abkunft des Demosthenes aus der uns so schwer verständlichen Welt der sophistischen Rhetorik - und zwar in ihrer reichsten und raffiniertesten Entfaltung - unwiderleglich nachgewiesen. Das Ergebnis weckte Entrüstung und ging zunächst verloren; seit den 60er Jahren schulte sich der Philologe an der imposanten ›Attischen Beredsamkeit˓ von Friedrich Blaß, einem Werk, ebenso ausgezeichnet durch den Fleiß und die Sachkunde des Verfassers wie erstaunlich durch das Fehlen jedes geschichtlichen Urteils.

Politische Idee und politische Wirklichkeit -: wenn wir an der soeben bezeichneten Stelle einsetzen, dann wird uns zwar das erstgenannte Moment zunächst entschwinden, aber wir lernen vielleicht etwas Notwendiges für das zweite.

Die Hellenen haben auf der Höhe der „Poliszeit“ die Erkenntnis gewonnen, daß die Wirklichkeit, mit der der Mann des öffentlichen Lebens als dem Antrieb und zugleich dem Gegenstand seiner Arbeit rechnet, einen unmittelbaren Bezug zur Sprache hat - es zählt, es wirkt nur die formulierbare, die formulierte „Wirklichkeit“. Daß man das Allerwichtigste, gerade das Lebensnotwendige nicht in Worte fassen kann, liegt im Bereich philosophischen Denkens; der Platonismus hat im Laufe der Jahrhunderte immer mehr Nachdruck auf diesen Gedanken des Meisters gelegt (Tim. 28c ist wohl eine der in der alten Literatur am meisten zitierten Stellen). Allein von hier aus könnte man den diametralen Gegensatz der beiden Zeitgenossen Platon und Demosthenes aufrollen; vielmehr hat ihn Platon aufgerollt - in seinen Auseinandersetzungen mit der Sophistik. ln dem großen Prozeß um den Kranz rückt Aischines seinem Feind einmal mißvergnügt vor, er schreibe die hellenische Allianz gegen Philipp (i. J. 340) ausschließlich sich, seinem Wort, seiner Zunge, seinen Gesetzesanträgen zu; während doch die politische Situation, die Verstörtheit der Thebaner, ihr Angewiesensein

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auf Bundesgenossen das unerwartete Bündnis herbeigeführt habe (3, 137. 141). Damit sagt er genau, was Demosthenes als Ehre empfindet, was ihn aber auch als echten Schüler eines Protagoras und Gorgias erscheinen läßt. Die καιροί und πράγματα erhalten Sprache und Zunge ja erst durch ihren Ausdeuter, den Redner; das ist es, was in dem Begrif des πείθειν liegt, den wir zu eng fassen, wenn wir ihn immer in malam partem verstehen. lm Dialog ›Gorgias< legt der alte Meister die Sieghaftigkeit des zielsicher beherrschten Wortes dar an gelassen-stolz erzählten Beispielen aus seiner Praxis, 456b. „Eine Kunst des Scheins“ - so soll der Platonleser urteilen; „eine hilfreiche Kunst des χρήσιμον“ - so würde der Sophist sich verteidigen. Wirklichkeit praktikabel zu machen - darin sehen die großen Sophisten der ersten Generation den Auftrag, der zu πολιτικὴ τέχνη führt. Politische Wirklichkeit, wie sie in den Reden und Diskussionen Athens aufscheint, kommt dem Zuhörer von vornherein als gedeutete Wirklichkeit vor Augen - womit er grundsätzlich ja von dem modernen Nachrichtenleser nicht unterschieden ist. Auch dieser ist sich nicht immer darüber klar, daß jede Auswahl aus den zahllosen Faktoren eines Geschehens bereits eine Interpretation darstellt. Freilich behalten wir uns, wenigstens theoretisch, die Forderung vor, ein Faktum müsse sich wissenschaftlich nach all seinen Bezügen aufklären lassen; wir sind uns aber wohl bewußt, daß wir Unmögliches verlangen, wenn wir reine, konsequente Sachlichkeit zum Prinzip des Lebens von Menschen unter Menschen erhoben wünschen. So sicher die Idee der reinen Sachlichkeit historisch auf die platonische Akademie zurückgeführt werden kann, so sicher muß, von hier aus gesehen, der sophistische Rhetor a.ls Inbegriff der Unsachlichkeit erscheinen. Dabei entziehen sich Protagoras und die Seinen keineswegs der naheliegenden Frage nach der Norm alles Redens und Lehrens (sie ist mit der Frage nach der Sache identisch und ebenso platonisch); gerade Protagoras hat sich offenbar mit Überzeugung für eine Moral der anständigen Gesinnung, des anerkannten Herkommens erklärt. Er gibt zu, daß die persönliche Verantwortung des Redekünstlers eine sehr große ist; er lehnt es ab, daß man die Kunst selbst grundsätzlich verdächtige. Natürlich ist dies alles, platonisch gesehen, ohne Bezug zum Eigentlichen, ist eine Moral aus der „Höhle", die uns der Anfang des VII. ›Politeia<-Buches zeigt. Aber es ist unsere Welt (meint die Sophistik), in ihr müssen wir leben und handeln, überreden und uns überreden lassen. Das

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ἀνθρώπινον ἀγαθόν, die nüchterne, doch keineswegs des Tiefsinns entbehrende Zielsetzung der aristotelischen Ethik kommt einem in den Sinn (Eth. Nik. l 1, 1094b 7); wie denn der Peripatos gar oft auf die Vorgänger Platons zurückgreift. Aristoteles hat denn auch, als er sich die große Aufgabe einer Redekunst innerhalb der sittlichen Normen stellte, zwar die suggestive Formel der Sophisten „τὸν ἥττω λόγον κρείττω ποιεῖν“ zurückgewiesen (Rhet. II 24, 1402a 24ff.), aber mit Platons Ablehnung jeder Rhetorik kann er nichts mehr anfangen. Ihm schwebt eine versachlichte Redekunst vor: „Nicht das Überzeugen ist ihre Aufgabe, sondern erkennen zu lassen, was an einem Sachverhalt jeweils plausibel ist“ (Rhet. I 5, 1354b 10).

Die Griechen haben eben innerhalb weniger Menschenalter gleichzeitig ein Doppeltes entwickelt: sie haben den Weltgrund als das Menschen-Fernste, Objektivste, als das absolute κεχωρισμένον (Heraklit B 108) aufgewiesen, und sie haben ein System der vollkommensten Subjektivierung der Welterfahrung geschaffen. Auch der Vordergrund, der „Schein“, hat seine Logik, seinen inneren Zusammenhang; so läßt sich denn zu seiner Beherrschung eine Techne entwerfen.

Es muß freilich gesagt werden, daß die noble, vermittelnde Rhetorik des Aristoteles zunächst ein reines Gedankenexperiment blieb, ohne Einfluß auf die rednerische Praxis. Diese war von der Leidenschaftlichkeit des politischen Kampfes bestimmt, der die Spätzeit des Gemeindestaates charakterisiert. Auch zur Zeit seiner klassischen Höhe war das Risiko (κίνδυνος) des aktiven Bürgers enorm gewesen; die eindrucksvolle, noch aus dem 5. Jh. stammende Rede Ps. Lys. XX - wie sie von Wilamowitz erschlossen hat - gibt davon Zeugnis. Um die Mitte des 4. Jh. hat das Sykophantenwesen seinen Gipfel erreicht; Hellas ist voll von politischen Flüchtlingen; die „Überredung“ tut in Privatwie in Staatsprozessen ihr Werk - als eine vergiftete Waffe. Unentbehrlich ist ein Einblick in jenes sehr instruktive, sehr indiskrete Handbüchlein des Anaximenes, das dieser Zeitgenosse des Demosthenes aus einer damals bereits fast hundertjährigen Tradition gezogen hat. Wie man in einer Versammlung zuoder abrät (mag es sich um Tempelbau, Kriegserklärung, Verfassungsänderung handeln), wie man den Gegner anschwärzt, den Freund herausstreicht, wozu ein schöner Sinnspruch gut ist, wie man beim Gegner auf Widersprüche aufpassen muß, wie man – und dies ist besonders schnöde - mit dem Wahrscheinlichkeitsbeweis umzu-

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gehen hat: dafür werden viele praktische Kniffe wohlgeordnet vorgetragen. Stellenweise möchte man geradezu an Ironie, an Persiflage des Genos glauben; aber der Autor - ein geachteter Historiker - meint alles ganz ernst - es gehört ja hier zum richtig aufgefaßten Thema, in völlig bedenkenloser Weise unsachlich zu sein.

Es ist der Forschung nicht schwergefallen, die „honorig aussehenden Gesichtspunkte“ (εὐπρεπεῖς ἀφορμαί), wie sie dies Handbuch lehrt, bei Lysias, Isokrates, Demosthenes nachzuweisen; die bisherigen Sammlungen ließen sich leicht erweitern. Aber wenn ich Ihnen nun einen Text (aus der ˒I. Olynthischen Rede˓) vorlege, dann selbstverständlich nicht, um aus diesem Kunstwerk ersten Ranges das Gerüst der κοιναὶ ἰδέαι, wie Anaximenes sagt, der Gemeinplätze also, herauszulösen, sondern um zu zeigen, wie ein enormer politischer Wille sich aus dem verbrauchten Material der Berufsrhetoren eine eigene Form schafft.

(I. Olynth. 21). ἄξιον δ᾽ ἐνθυμηθῆναι καὶ λογίσασθαι τὰ πράγματ᾽ ἐν ᾧ καθέστηκε νυνὶ τὰ Φιλίππου. οὔτε γάρ, ὡς δοκεῖ καὶ φήσειέ τις ἂν μὴ σκοπῶν ἀκριβῶς, εὐτρεπῶς οὐδ᾽ ὡς ἂν κάλλιστ᾽ αὐτῷ τὰ παρόντ᾽ ἔχει, οὔτ᾽ ἂν ἐξήνεγκε τὸν πόλεμόν ποτε τοῦτον ἐκεῖνος, εἰ πολεμεῖν ᾠήθη δεήσειν αὐτόν, ἀλλ᾽ ὡς ἐπιὼν ἅπαντα τότ᾽ ἤλπιζε τὰ πράγματ᾽ ἀναιρήσεσθαι, κᾆτα διέψευσται. τοῦτο δὴ πρῶτον αὐτὸν ταράττει παρὰ γνώμην γεγονὸς καὶ πολλὴν ἀθυμίαν αὐτῷ παρέχει, εἶτα τὰ τῶν Θετταλῶν.

[22] ταῦτα γὰρ ἄπιστα μὲν ἦν δήπου φύσει καὶ ἀεὶ πᾶσιν ἀνθρώποις, κομιδῇ δ᾽, ὥσπερ ἦν, καὶ ἔστι νῦν τούτῳ. καὶ γὰρ Παγασὰς ἀπαιτεῖν αὐτόν εἰσιν ἐψηφισμένοι, καὶ Μαγνησίαν κεκωλύκασι τειχίζειν. ἤκουον δ᾽ ἔγωγέ τινων, ὡς οὐδὲ τοὺς λιμένας καὶ τὰς ἀγορὰς ἔτι δώσοιεν αὐτῷ καρποῦσθαι· τὰ γὰρ κοινὰ τὰ Θετταλῶν ἀπὸ τούτων δέοι διοικεῖν, οὐ Φίλιππον λαμβάνειν. εἰ δὲ τούτων ἀποστερήσεται τῶν χρημάτων, εἰς στενὸν κομιδῇ τὰ τῆς τροφῆς τοῖς ξένοις αὐτῷ καταστήσεται.

[23] ἀλλὰ μὴν τόν γε Παίονα καὶ τὸν Ἰλλυριὸν καὶ ἁπλῶς τούτους ἅπαντας ἡγεῖσθαι χρὴ αὐτονόμους ἥδιον ἂν καὶ ἐλευθέρους ἢ δούλους εἶναι· καὶ γὰρ ἀήθεις τοῦ κατακούειν τινός εἰσι, καὶ ἅνθρωπος ὑβριστής, ὥς φασιν. καὶ μὰ Δί᾽ οὐδὲν ἄπιστον ἴσως· τὸ γὰρ εὖ πράττειν παρὰ τὴν ἀξίαν ἀφορμὴ τοῦ κακῶς φρονεῖν τοῖς ἀνοήτοις γίγνεται· διόπερ πολλάκις δοκεῖ τὸ φυλάξαι τἀγαθὰ τοῦ κτήσασθαι χαλεπώτερον εἶναι.

[24] δεῖ τοίνυν ὑμᾶς, ὦ ἄνδρες Ἀθηναῖοι, τὴν ἀκαιρίαν τὴν ἐκείνου καιρὸν ὑμέτερον νομίσαντας ἑτοίμως συνάρασθαι τὰ πράγματα, καὶ πρεσβευομένους ἐφ᾽ ἃ δεῖ καὶ στρατευομένους αὐτοὺς καὶ παροξύνοντας τοὺς ἄλλους ἅπαντας, λογιζομένους, εἰ Φίλιππος λάβοι καθ᾽ ἡμῶν τοιοῦτον καιρὸν καὶ πόλεμος γένοιτο πρὸς τῇ χώρᾳ, πῶς ἂν αὐτὸν οἴεσθ᾽ ἑτοίμως ἐφ᾽ ὑμᾶς ἐλθεῖν; εἶτ᾽ οὐκ αἰσχύνεσθε, εἰ μηδ᾽ ἃ πάθοιτ᾽ ἄν, εἰ δύναιτ᾽ ἐκεῖνος, ταῦτα ποιῆσαι καιρὸν ἔχοντες οὐ τολμήσετε; (Text: ed. C. Fuhr, BT, I, 1914)

(349/48 v. Chr.: Philipp steht vor der nordgriechischen Festung Olynth, deren einzige Rettung noch in der Hilfe Athens liegt. Die erhaltene Textfassung der Ol. I-III hat alles im engeren Sinn situationsgebundene abgestreift.) „Der Kairos ruft uns förmlich zu, die Dinge anzupacken“ (§ 2), Der Rhetor vor seinem Volk immer auf des Messers Schneide: was darf man dem Demos sagen? Was muß man ihm sagen? Wie legt man den Ernst der Lage klar und zugleich die Gunst der Lage?

Es sind im Grunde einige wenige Motive, die sich verflechten. Philipp ist gefährlich (3); er könnte den Krieg nach Attika tragen (12. 15); aber seine Stärke ist diesmal seine Schwäche. Auch er hat seine Sorgen (21); nun gilt es, seine ἀκαιρία als unseren καιρός zu betrachten und zu nützen. Die Dinge zu sehen, wie sie sind das ist die erste Leistung, - die vom Hörer verlangt wird; die zweite ist - Aktion, Aktion an sich: die inhaltlichen Erfüllungen des συνάρασθαι τὰ πράγματα werden ungeduldig in der Partizip-Form zurückgeschoben (πρεσβευοθμένους, στρατευομένους, παροξύνοντας). Was im einzelnen geschehen soll, ist gar nicht so wichtig; nur - gehandelt soll werden! Ἀντιλαμβάνεσθαι τῶν πραγμάτων: der Ausdnick umrahmt den ganzen Zusammenhang (2 ~ 20), und zwar sehr pointiert: dreimal hat Demosthenes spitzig von λαμβάνειν, „Nehmenwollen“, dem „Einstreichen“ des auf seine Staatszuschüsse versessenen athenischen Spießbürgers gesprochen; jetzt wird die Gegenrechnung aufgemacht: es heißt „zugreifen“! In den Schlußsätzen (24) gipfelt ein vorher dreimal erhobener Aufruf (vgl. 2, 6, 17f.), es gipfelt auch eine dreimal wiederholte Drohung. Aber jetzt wird sie zu einem Moment der Anfeuerung: Philipp würde eine solche Chance nutzen und rasch an unseren Grenzen stehen. Der Makedone ist Schreckbild und Vorbild in einem; ἑτοίμως (Lieblingswort!) würde er handeln - so sollt Ihr handeln (24, bis).

Die Dinge sehen, wie sie sind - hier also die ungünstige Lage des Feindes. Wir versuchen - was die Demosthenesinterpreten öfters versäumt haben -, uns von der autoritativ ausstrahlenden Sicherheit des Redners freizumachen, des Redners, der so genau weiß, wie man in Thessalien insgeheim die Fäuste ballt, wie es Philipp vorher und jetzt zumute war und ist ... Was für eine ungewöhnlich ungünstige Situa

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tion des Königs ist wohl gemeint? Sie wird sich nie rekonstruieren lassen, denn diese ἀκαιρία ist Fiktion, ebenso Fiktion wie das triumphierend am Satzschluß stehende „Getäuscht hat er sichl“ (21 fin.). Die Vermutungen, die Demosthenes in zuversichtlich formulierten Hauptsätzen darlegt, haben sehr schwache Stützen: a) Am Anfang liest man eine Umkehrung dessen, was auch Demosthenes wissen mußte; nichts konnte dem makedonischen Imperialisten erwünschter sein als der Kriegsgrund, den ihm die Olynthier endlich (349) boten; b) es folgt ein Gemeinplatz über die Volkseigenart der Thessalier, c) ein Hinweis auf deren grimmige antimakedonische Volksbeschlüsse - wie ironisch kann der Redner sonst vom Wert bloßer Beschlüsse seiner Athener sprechen (etwa Ol, III fin.)! d) Es schließt sich ein Gemeinplatz über die Freiheitsliebe der Bergvölker an; den Höhepunkt, e), bilden Sicherheit ausstrahlende Sentenzen. Auch Philipp untersteht der allgemeinen Gesetzmäßigkeit von Aufstieg und Verfall; älteste athenische (nämlich solonische) Philosophie wird bemüht, um dieses unabwendbare Sinken einerseits im Naturleben zu verankern, andrerseits ans Moralische zu binden: καὶ γὰρ ἄνθρωπος ὑβριστής (23). Nachrechnen darf also der Hörer nicht - aber soll er's nicht? Die Partie ist umrahmt und durchzogen von Verben wie ἐνθυμεῖσθαι, λογίζεσθαι, σκοπεῖν. Tatsächlich aber nimmt der Redner seinem Gegenüber dies ja alles ab; er läßt ihm nur ein einziges Gleis frei, eine Bahn des Denkens, nein des Jasagens … Dieser Aufstieg von dem fast gemütlichen „es lohnt sich einmal nachzudenken“ (21 in.) bis zu dem dreifachen fanfarenartigen „Kairos“ am Ende scheint mir ein Beispiel dafür zu sein, wie die Peitho des Demosthenes Situationen nicht nur deutet, sondern erschaft, wie er das Urteilsvermögen der Volksversammlung im selben Augenblick aufruft, wo er es - im Wortsinn - fesselt. Den geläufigen Appell an das Ehrgefiihl stellt er viel seltener in seinen Dienst als dies intellektuelle Vokabular. Hier allerdings wählt er einmal als Abschluß ein „εἶτ’ οὐκ αἰσχύνεσθε“, nach isokrateischer Manier als Pathosfrage geformt; wie sie gemacht ist - mit diesen fünf wuchtigen, auf engstem Raum sich stoßenden und doch in ihrer Ordnung scharf ausgerechneten finiten Verben (zwei sich kreuzende Antithesenl) - dies hat Isokrates freilich nicht gekonnt.

Die Suggestion, die von Demosthenes' Kunst ausgeht, beruht einmal auf der für wirkungsvollsten Vortrag zugerichteten Wortstellung (ein

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„Mechanismus, den nur gespannteste Aufmerksamkeit bedienen kann“, von Wilamowitz). Sie war das Entzücken der alten Techniker, wie des Dionysios von Halikarnaß, der in seinem Buch über die Lexis des Demosthenes solche Perioden in normale Prosa umschreibt, um die kunstvollen Verschränkungen sichtbar zu machen. Jene δεινότης (über die L. Voits Buch vorzüglich belehrt) beruht aber auch auf der unermüdlichen Wiederholung synonymεr Leitbegrifle, so hier, l. Phil. 2ff., die Antithese des „pflichtmäßigen Sorgens“ und des „Vernachlässigens“. Der athenische Polit erhält seine verdiente Schelte ob seiner Saumseligkeit, aber zugleich wird ihm der Schlüssel zur Weltpolitik in die Hand gedrückt. „Ihr braucht nur zu wollen“ (vgl. 7 u. ö.)! Die Weltlage scheint für den Makedonen zu sprechen, aber es ist ia unsinnig und unnatürlich: Μακεδὼν ἀνὴρ Ἀθηναίους καταπολεμῶν καὶ τὰ τῶν Ἑλλήνων διοικῶν (10/11) ... also spricht sie gegen Philipp. Bei einer solchen Konzeption kann es sich Demosthenes leisten, die Macht und Gefährlichkeit des Feindes dem Hörer vorzuführen: es ist ja jede Machtsteigerung Philipps bloß die Ausnützung eines von den so starken wie saumseligen Athenern freigelassenen Raumes -„Ihr habt ihn groß gemacht“ .

(I. Phil. 2) […]

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[…]

De cor. 62-72: Die Lage (κατάστασις) unmittelbar vor dem großen Kampf bot - so hören wir - drei Möglichkeiten. Man konnte mit dem Feind gemeinsame Sache machen - wie die verächtlichen Nordgriechen (63), oder in egoistischer Nebenabsicht zuschauen - wie die Peloponnesier (der Gedanke, daß diese doch wahrlich vor Sparta mehr auf der

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Hut sein mußten als vor Makedonien, darf dem Hörer natürlich keinen Augenblick kommen), oder man konnte selbstlos gegen den Fremden in die Schranken treten; das tat allein Athen. Dies panhellenische Motiv zieht sich girlandenartig durch den ganzen Zusammenhang und wird dabei mit der Motivlinie „Philipp“ verflochten; der Makedone hat ja von Anfang an nichts anderes als die Unterjochung ganz Griechenlands und die Vernichtung seiner Kultur (das wäre etwa τὰ τῶν προγόνων καλὰ καὶ δίκαια, 63) im Sinn gehabt. Die Eindeutigkeit des Verdammens könnte zu einer gewissen Monotonie führen; da ist es nun genial, wie Demosthenes aus der Persönlichkeit seines Gegenspielers einen überraschenden Höhepunkt gewinnt, geradezu eine Aristie Philipps (67/8). Sein Ziel, das Streben nach dem ersten Rang, macht ihm Ehre, ja, es hebt ihn geradezu auf den Rang Athens (vgl. 68 μεὰ τιμῆς καὶ δόξης ζῆν). Er kam aus der Tiefe (das Worte Pella ist so geschickt untergebracht, daß es eben diesen Eindruck beim Hörer bewirken muß) und strebte nach dem Höchsten. Wir Athener kamen aus der Fülle des Besitzes - hätte das alles zu nichts werden sollen?

Mit der tapferen Gegenwehr Athens ist aber nun der Sprecher selbst verbunden. „Du bist schuld!“ hatte, Stunden vorher, Aischines, der Mann mit der klangvollen Stimme (λαμπρόφωνος, 313), ihm zugerufen. „Mir ist's zu dankenl“ so zieht es sich, immer neu formuliert, durch den Abschnitt der demosthenischen Rede (60. 62. 65. 69). Zusammen mit diesem hallenden ἐγώ geht noch die zupackende Frage durch den ganzen Zusammenhang „Was hätte man denn anders tun sollen?“ (τί προσῆκον ἥν ποιεῖν u. ä.[1], vgl. 62, 63, 66, 71 fin. 72). Das Motiv τοῦτ’ ἐποιεῖτο εἰκότως καὶ προσηκόντως (69) zieht sich durch alle Staatsreden; der Redner legt Gewicht darauf, daß jeder sieht: Sprecher und Volk haben das gleiche „Wertsystem“, dieselbe unerschütterliche Gemein-Anschauung über das, was eigentlich richtig ist (auch dies kalkuliert jener Handbuchverfasser, Anaximenes, ein). Es wurde früher gezeigt, dass Demosthenes im politischen Tageskampf seinen Weg suggestiv als den einzig möglichen erscheinen läßt; hier, in der apologe-

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tisch gewendeten Rückblendung der Kranzrede, vermag der Rhetor das καλόν mit dem ἀνγκαῖον in eins zusammenzuziehen. Er erreicht es, daß der Hörer felsenfest überzeugt ist: es gab nur eine Möglichkeit - den Freiheitskrieg.

Was für eine grandiose Simplifizierung! Suggestiv wird unterstellt, Philipp habe von Anfang an Griechenland knechten wollen (wir können mit ziemlicher Sicherheit sagen, daß dies falsch ist), es wird unterstellt, jeder außenpolitische Mißerfolg (vgl. 69ff.) sei eine Schmach Athens, eine Niedertracht des Makedonen gewesen. In strömender Rede, mit scheinbar lückenloser Kenntnis sämtlicher Einzeldinge (sie lagen bis zu 22 Jahren zurück, wer konnte sie von den Hörern nachprü- fen!) wird festgestellt: jede Woche hat damals ein neues ἀδίκημα Φιλίππου gebracht. Mit welcher Eindruckskraft wird die panhellenische - weil antimakedonische - Mission Athens beleuchtet, eben zu der Zeit, da der wirklich panhellenische Zug Alexanders durch Asien ging! - Was für eine faszinierende Montage! Es ist doch wohl etwas Bedenkliches um die Verherrlichung des grandiosen politischen Mißerfolgs gerade in den Kreisen der stillen Gelehrten - die Reihe reicht von dem Halikarnassier Dionysios über den jüngeren Plinius bis zu Adolf Westermann, zu dem fleißigen Jesuitenpater Wilhelm Fox und in unsere Tage … „Die Beredtsamkeit der Alten will nichts als überreden, und ist wenig um die Mittel besorgt, diesen Zweck zu erreichen“ - „Erst ruhige Betrachtung und sorgfältige Vergleichung der gegenseitigen Aussagen (scil. des Demosthenes und Aischines) und deren Gründe, verbunden mit der erforderlichen Kenntniß der Theorie der Beredtsamkeit wird eine unbefangene Beurtheilung geben und Vieles in anderem Lichte erscheinen lassen, als man es früher gesehen hat …. Die Alten, mit Rhetorik und Rhetoren besser vertraut, haben oft einen Beweis von Schwäche gefunden, wo man jetzt, weil der Redner ganz anders spricht, als er vielleicht denkt, überzeugende Kraft zu sehen glaubt; ihnen lag seine viel gerühmte δεινότης nicht in der Wahrheit dessen, was er sagt, sondern darin, daß er Allem, was er sagt, auch wenn es nicht wahr ist, überzeugende Kraft zu geben und auf den Zuhörer zu wirken versteht“ (L. Spengel, Abh. d. Kgl. Ak. d. Wiss. München X, 1864, S. 31 f. [in diesem Sammelband S. 31]).

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Die Motivlinie „Politische Idee und politische Wirklichkeit“ scheint weit entfernt. Doch sind wir ihr, wie ich hoffe, auf die Weise des Demosthenes nahegeblieben. Mochten vielleicht Aischines und Phokion die politische Lage besser beurteilt haben, das athenische Volk schloß sich dem großen Rhetor an, der ldee und Wirklichkeit im Wort zu schaffen und in eins zu schmelzen wußte – δεινὸς λέγειν καὶ πεῖσαι.

 

[1] Es sei an ein großartiges Beispiel früher attischer Prozeßberedsamkeit erinnert, die Verteidigungsrede des Orest im euripideischen Drama (408 v. Chr.), mit dem verzweiflungsvollen τί χρῆν με δρᾶσαι; (551. 596). Um eine großartig durchgespielte „Rolle“ handelt es sich auch in der ›Kranzrede<.