Plat.Pol.545b-547a Protokoll zum 20.01.2024

Zeit: 10:00 – 12:15 Uhr                -              Ort: online
anwesend: Caren, Holger, Friedrich

Übersetzung:

ἆρ᾽ οὖν, ὥσπερ ἠρξάμεθα ἐν ταῖς πολιτείαις πρότερον σκοπεῖν[1] τὰ ἤθη ἢ ἐν τοῖς ἰδιώταις, ὡς[2] ἐναργέστερον ὄν, καὶ νῦν οὕτω πρῶτον μὲν τὴν φιλότιμον σκεπτέον πολιτείαν - ὄνομα γὰρ οὐκ ἔχω λεγόμενον ἄλλο· ἢ τιμοκρατίαν ἢ τιμαρχίαν αὐτὴν κλητέον; - πρὸς δὲ ταύτην τὸν τοιοῦτον [545c] ἄνδρα σκεψόμεθα, ἔπειτα ὀλιγαρχίαν καὶ ἄνδρα ὀλιγαρχικόν, αὖθις δὲ εἰς δημοκρατίαν ἀποβλέψαντες θεασόμεθα ἄνδρα δημοκρατικόν, τὸ δὲ τέταρτον εἰς τυραννουμένην πόλιν ἐλθόντες καὶ ἰδόντες, πάλιν εἰς τυραννικὴν ψυχὴν βλέποντες, πειρασόμεθα περὶ ὧν προυθέμεθα ἱκανοὶ κριταὶ γενέσθαι;

Sollen wir nun, wie wir angefangen haben vorher bei den Verfassungen die Charaktere zu betrachten (als) und dann erst bei den einzelnen Bürgern, weil dies deutlicher ist, auch jetzt ebenso zuerst die ehrliebende Verfassung betrachten – einen anderen geläufigen Namen habe ich nicht; oder soll man sie Timokratie oder Timarchie nennen? – und werden wir zusätzlich zu ihr den so gearteten Mann betrachten, dann die Oligarchie und den oligarchischen Mann, und werden wir weiterhin, wenn wir auf die Demokratie geschaut haben, den demokratischen Mann betrachten, viertens aber werden wir, wenn wir in die tyrannisch regierte Stadt gegangen und geblickt haben, noch in die tyrannische Seele blicken und <so> versuchen über das, was wir uns vorgenommen haben, zureichende Richter zu werden?

κατὰ λόγον γέ τοι ἄν, ἔφη, οὕτω γίγνοιτο ἥ τε θέα καὶ ἡ κρίσις.

Sinnvoll dürfte wohl sicherlich, sagte er, auf diese Weise die Betrachtung und die Beurteilung werden.

φέρε τοίνυν, ἦν δ᾽ ἐγώ, πειρώμεθα λέγειν τίνα τρόπον τιμοκρατία γένοιτ᾽ ἂν ἐξ ἀριστοκρατίας. ἢ τόδε μὲν ἁπλοῦν, [545d] ὅτι πᾶσα πολιτεία μεταβάλλει ἐξ αὐτοῦ τοῦ ἔχοντος τὰς ἀρχάς, ὅταν ἐν αὐτῷ τούτῳ στάσις ἐγγένηται· ὁμονοοῦντος δέ, κἂν πάνυ ὀλίγον ᾖ, ἀδύνατον κινηθῆναι;

Gut also, sagte ich, lass uns versuchen zu sagen, auf welche Weise die Timokratie aus der Aristokratie entstehen könnte. Oder ist dies einfach <so>, dass eine jede Verfassung sich ändert aufgrund genau desjenigen, der die Ämter innehat, wenn genau in diesem der Streit aufkommt? Wenn er aber <mit sich> einig ist, ist es unmöglich, dass etwas, mag es auch noch so wenig sein, sich ändert.

ἔστι γὰρ οὕτω.

So ist es ja.

πῶς οὖν δή, εἶπον, ὦ Γλαύκων, ἡ πόλις ἡμῖν κινηθήσεται, καὶ πῇ στασιάσουσιν οἱ ἐπίκουροι καὶ οἱ ἄρχοντες πρὸς ἀλλήλους τε καὶ πρὸς ἑαυτούς; ἢ βούλει, ὥσπερ Ὅμηρος, εὐχώμεθα ταῖς Μούσαις εἰπεῖν ἡμῖν "ὅπως δὴ" [545e] "πρῶτον" στάσις "ἔμπεσε"Hom. Il. 1.6, καὶ φῶμεν αὐτὰς τραγικῶς ὡς πρὸς παῖδας ἡμᾶς παιζούσας καὶ ἐρεσχηλούσας, ὡς δὴ σπουδῇ λεγούσας, ὑψηλολογουμένας λέγειν;

Wie nun, sagte ich, mein Glaukon, wird uns die Stadt verändert werden und auf welche Weise werden die Helfer und die Herrschenden gegeneinander und gegen sich selbst in Streit geraten? Oder willst du, das wir wie Homer zu den Musen beten uns zu sagen, „wie denn zuerst der Streit entstand“? Und sollen wir (sagen) sie bitten, dass sie in tragischem Tonfall wie zu Kindern zu uns, spielerisch und scherzend, als ob sie ernsthaft sprächen/ sie es ernst meinten, hochtrabend reden?

πῶς; [546a]

Wie?

 

ὧδέ πως. χαλεπὸν μὲν κινηθῆναι πόλιν οὕτω συστᾶσαν· ἀλλ᾽ ἐπεὶ γενομένῳ παντὶ φθορά ἐστιν, οὐδ᾽ ἡ τοιαύτη σύστασις τὸν ἅπαντα μενεῖ χρόνον, ἀλλὰ λυθήσεται. λύσις δὲ ἥδε· οὐ μόνον φυτοῖς ἐγγείοις, ἀλλὰ καὶ ἐν ἐπιγείοις ζῴοις φορὰ καὶ ἀφορία ψυχῆς τε καὶ σωμάτων γίγνονται, ὅταν περιτροπαὶ ἑκάστοις κύκλων περιφορὰς συνάπτωσι, βραχυβίοις μὲν βραχυπόρους, ἐναντίοις δὲ ἐναντίας. γένους δὲ ὑμετέρου εὐγονίας τε καὶ ἀφορίας, καίπερ ὄντες σοφοί, [546b] οὓς ἡγεμόνας πόλεως ἐπαιδεύσασθε, οὐδὲν μᾶλλον λογισμῷ μετ᾽ αἰσθήσεως τεύξονται, ἀλλὰ πάρεισιν αὐτοὺς καὶ γεννήσουσι παῖδάς ποτε οὐ δέον.

Vielleicht so: Zwar ist es schwer, dass eine so aufgestellte Stadt sich verändert. Aber da alles Gewordene ein Vergehen hat, bleibt auch eine solche Aufstellung nicht alle Zeit, sondern löst sich auf. Die Auflösung ist aber diese: Nicht nur die Pflanzen in der Erde, sondern auch bei den Lebewesen auf der Erde gibt es eine Zeit von Frucht und ohne Frucht (der) für Seele und Körper, wenn ihnen jeweils die Kreisläufe die Bögen (zusammenfügen) abschließen, den kurzlebigen zwar kürzere, den gegenteiligen aber gegenteilige. Für euer Geschlecht aber werden, wenn sie auch weise sind, die ihr zu Führern der Stadt erzogen habt, die Zeiten der guten Zeugung und der Unfruchtbarkeit durch Berechnung mit Erfahrung keineswegs besser treffen, sondern es wird ihnen entgehen und sie werden einmal Kinder zeugen, wenn es nicht erlaubt/richtig ist. 

 

ἔστι δὲ θείῳ μὲν γεννητῷ περίοδος ἣν ἀριθμὸς περιλαμβάνει τέλειος, ἀνθρωπείῳ δὲ ἐν ᾧ πρώτῳ αὐξήσεις δυνάμεναί τε καὶ δυναστευόμεναι, τρεῖς ἀποστάσεις, τέτταρας δὲ ὅρους λαβοῦσαι ὁμοιούντων τε καὶ ἀνομοιούντων καὶ αὐξόντων καὶ φθινόντων, πάντα προσήγορα [546c] καὶ ῥητὰ πρὸς ἄλληλα ἀπέφηναν· ὧν ἐπίτριτος πυθμὴν πεμπάδι συζυγεὶς δύο ἁρμονίας παρέχεται τρὶς αὐξηθείς, τὴν μὲν ἴσην ἰσάκις, ἑκατὸν τοσαυτάκις, τὴν δὲ ἰσομήκη μὲν τῇ, προμήκη δέ, ἑκατὸν μὲν ἀριθμῶν ἀπὸ διαμέτρων ῥητῶν πεμπάδος, δεομένων ἑνὸς ἑκάστων, ἀρρήτων δὲ δυοῖν, ἑκατὸν δὲ κύβων τριάδος.

Es gibt aber für das göttliche Gezeugte einen Zeitabschnitt, den eine vollkommene Zahl umfasst, für das menschliche aber eine, in der als der ersten Vervielfältigungen durch Quadrieren und Wurzelziehen drei Abstände, aber vier Grenzen nehmende von Gleichem und Ungleichem und Gewachsenem und Vermindertem alles in Übereinstimmung und rational ergeben.

 

Deren Grundverhältnis drei zu vier ergibt in Verbindung mit fünf zwei Harmonien, dreimal vermehrt,


die eine quadratisch hundertmal ebensoviel, die andere von gleicher Seitenlänge in der einen Richtung, aber länger, einerseits hundertmal die Diagonale der Fünf, minus eins jedesmal, aber bei unbestimmbaren Zahlen jeweils minus zwei, andererseit hundert Kuben der Drei. (nach der Übersetzung von Gernot Krapinger)

 

σύμπας δὲ οὗτος ἀριθμὸς γεωμετρικός τοιούτου κύριος, ἀμεινόνων τε καὶ χειρόνων γενέσεων, [546d] ἃς ὅταν ἀγνοήσαντες ὑμῖν οἱ φύλακες συνοικίζωσιν νύμφας νυμφίοις παρὰ καιρόν, οὐκ εὐφυεῖς οὐδ᾽ εὐτυχεῖς παῖδες ἔσονται· ὧν καταστήσουσι μὲν τοὺς ἀρίστους οἱ πρότεροι, ὅμως δὲ ὄντες ἀνάξιοι, εἰς τὰς τῶν πατέρων αὖ δυνάμεις ἐλθόντες, ἡμῶν πρῶτον ἄρξονται ἀμελεῖν φύλακες ὄντες, παρ᾽ ἔλαττον τοῦ δέοντος ἡγησάμενοι τὰ μουσικῆς, δεύτερον δὲ τὰ γυμναστικῆς, ὅθεν ἀμουσότεροι γενήσονται ὑμῖν οἱ νέοι. ἐκ δὲ τούτων ἄρχοντες οὐ πάνυ φυλακικοὶ [546e] καταστήσονται πρὸς τὸ δοκιμάζειν τὰ Ἡσιόδου τε καὶ τὰ παρ᾽ [547a] ὑμῖν γένη, χρυσοῦν τε καὶ ἀργυροῦν καὶ χαλκοῦν καὶ σιδηροῦν·

Diese ganze geometrische Zahl ist Herr über dergleichen, nämlich über bessere und schlechtere Zeugungen, und wenn euch in deren Unkenntnis die Wächter den jungen Männern die Bräute zur unrechten Zeit beigesellen, werden die Kinder nicht wohlgeraten und nicht glücklich sein. Von diesen stellen die Vorderen zwar die besten auf, obwohl sie aber unwürdig sind, werden sie, wieder in die Machtstellungen der Väter gekommen, beginnen, uns zuerst zu vernachlässigen, obwohl sie Wächter sind, indem sie  die musische und zweitens die gymnastische Ausbildung für unwichtiger erachten, als es sein müsste, weswegen euch die jungen Leute weniger musisch geraten. Aufgrund dessen werden Herrschende als nicht völlig fürs Wächteramt Geeignete aufgestellt werden, für die Prüfung der Geschlechter sowohl nach Hesiod als auch <noch> bei euch, nämlich des goldenen, silbernen, bronzenen und eisernen.

 

 

 

 

Anmerkungen dazu:

  1. [545d] ἐξ αὐτοῦ τοῦ ἔχοντος τὰς ἀρχάς, ὅταν ἐν αὐτῷ τούτῳ στάσις ἐγγένηται
    Probleme bereitete uns der Sg. τοῦ ἔχοντος: Kann ein Streit in einem Einzelnen entstehen?
    1. Ja, es ist vorstellbar, das in einem Einzelnen verschiedene Einstellungen im Widerspruch stehen.
    2. ἐξ αὐτοῦ τοῦ ἔχοντος τὰς ἀρχάς: aus dem Plural τὰς ἀρχάς kann man schließen, dass der Einzelne in einer Gruppe gemeint ist.
  2. πάρεισιν αὐτούς: πάρειμι als Futur von παρέρχομαι: es wird an ihnen vorbeigehen
    (Ich hatte beim gemeinsamen Übersetzen meine eigenen Angaben in den Vokabeln  nicht im Blick und muss mich leider wieder einmal korrigieren.)
  3. Lange haben wir über die Musenrede mit der Angabe der „Zeugungszahl“ diskutiert.
    Ist sie eine ironisches Spiel oder ernst zu nehmen?
    1. Holger schien es unwahrscheinlich, dass Platon einen so langen Textabschnitt und eine so lange Berechnung der „Zeugungszahl“ nicht ernst nähme. Schließlich vertritt er im 5. Buch, 459d ff. eugenische Ideen.

δεῖ μέν, εἶπον, ἐκ τῶν ὡμολογημένων τοὺς ἀρίστους ταῖς ἀρίσταις συγγίγνεσθαι ὡς πλειστάκις, τοὺς δὲ φαυλοτάτους ταῖς φαυλοτάταις τοὐναντίον, καὶ τῶν μὲν τὰ ἔκγονα τρέφειν, [459ε] τῶν δὲ μή, εἰ μέλλει τὸ ποίμνιον ὅτι ἀκρότατον εἶναι, καὶ ταῦτα πάντα γιγνόμενα λανθάνειν πλὴν αὐτοὺς τοὺς ἄρχοντας, εἰ αὖ ἡ ἀγέλη τῶν φυλάκων ὅτι μάλιστα ἀστασίαστος ἔσται.

Es ist nötig, sagte ich, aufgrund <unserer bisherigen> Übereinkünfte, dass die besten Männer mit den besten Frauen möglichst oft zusammenkommen, und die schlechtesten Männer mit den schlechtesten Frauen und umgekehrt, und die Erzeugnisse/ Brut/ Kinder von den einen aufzuziehen, von den anderen aber nicht, wenn die Herde möglichst hervorragend sein soll, und <es ist nötig>, dass dieses ganze Geschehen verborgen ist außer vor den Herrschenden selbst, wenn wiederum die Herde/ Schar der Wächter möglichst wenig aufsässig sein soll.

    1. Dem gegenüber steht, dass Platon die Rede, bevor sie beginnt, als Spiel und Scherz und hochgestochen, „als ob sie es ernst meinten“ kennzeichnet.

Auch sonst spricht Platon/ Sokrates gern ironisch wie z.B. in userem Textabschnitt schon in 544c, wenn er die Tyrannis edel (ἡ γενναία δὴ τυραννίς) nennt, obwohl sie doch τέταρτόν τε καὶ ἔσχατον πόλεως νόσημα ist.
Außerdem ist Platon Mathematiker, der z.B. im Timaios die platonischen Körper für andere Mathematiker verständlich entwickelt. Die Berechnung der „Zeugungszahl“ ist aber sowohl für antike als auch für moderne Mathematiker nicht nachvollziehbar. Auch wird nicht gesagt, was sie überhaupt bezeichnet und wie: den Zeitpunkt der Zeugung? In welchem Zeitraum?

    1. Letztlich geht es doch darum, dass auch Platons Staat nicht ewig sein kann, insofern er zur realen Welt gehören soll, in der alles dem Werden und Vergehen unterliegt. Er ist aber mit seinem ausgeklügelt radikalem Eugenik- und Erziehungssystem eigentlich fehlerfrei und unvergänglich, und Platon muss nun doch eine Schwachstelle nennen. Er findet sie in der Eugenik; denn deren Berechnung ist mit Erfahrung und also mit der Wirklichkeit verbunden: λογισμῷ μετ᾽ αἰσθήσεως. Denn schon die ausführliche Berechnung der „Zeugungszahl“ ist undurchschaubar, dann aber erst die Wirklichkeit! Und da unterlaufen selbst den σοφοί Fehler.
    2. Zudem: Wenn Platon die Idee eines vollkommenen Staates darstellt, durchaus nur ethisch-moralisch, letztlich transzendental mit der Idee des Guten begründet und ohne genauere Ausführung über die Verfassungsorgane und Gesetze (das holt Platon in seinem Spätwerk Nomoi nach, wo er auf die Radikalität der Politeia verzichtet), dann ist dieser Idealstaat auch nicht von dieser Welt und sein Übergang zu irgend einer real gedachten Staatsform der Schritt aus dem Reich des Idealen in die Wirklichkeit; und der ist real nicht begründbar. So betrachtet wäre es also konsequent, dass Platon diesen Übergang dichterisch mit Hilfe der Musen und rätselhaft mit einer unlösbaren Rechnung gestaltet, also spielerisch, scherzend und im hohen Ton der der Phantasie verpflichteten Dichtung.

Nächstes Treffen: Sonntag, 28.01.24, 10:00 Uhr

Vorbereitung dazu:
Ich habe in Plat.Politeia VIII jetzt den Text mit einigen Anmerkungen und die Vokabeln bis 548c hochgeladen. Im Laufe der Woche werde ich das noch erweitern.

 


[1] σκοπεῖν gehört zu ἠρξάμεθα

[2] ὡς ἐναργέστερον ὄν: erg. τοῦτο – Der ganze Ausdruck steht im Acc.Graecus