Plat.Pol.561e-562d Protokoll zum 09.06.2024

Zeit: 10:00 - 12:10 Uhr             -                      Ort: online
anwesend: Holger, Walter, Friedrich
 

Vorweg:

Wir setzten die Diskussion der letzten Sitzung fort, inwieweit S. Freuds Konstrukt von Es, Ich und Überich Platons Vorstellungen von der Seele entspricht. Ich wies noch einmal darauf hin, dass Platons idealistischer Ansatz eines obersten Gerechten, das im Staat und im Individuum zu implementieren sei und in der Rigorosität der Politeia zu einem Zwangsstaat führt, über Freuds individualpsychologischen Ansatz hinausgeht. und verwies auf den späten pessimistischen Aufsatz „Das Unbehagen in der Kultur“ von 1930, in dem er die individualpsylogischen Prinzipien von Eros und Aggressionstrieb auf die „Kultur“ ausweitet, nachzulesen im Projekt Gutenberg
 https://www.projekt-gutenberg.org/freud/unbehag/chap001.html.
Auszug aus Kapitel III:
Die Triebsublimierung ist ein besonders hervorstechender Zug der Kulturentwicklung, sie macht es möglich, daß höhere psychische Tätigkeiten, wissenschaftliche, künstlerische, ideologische, eine so bedeutsame Rolle im Kulturleben spielen. Wenn man dem ersten Eindruck nachgibt, ist man versucht zu sagen, die Sublimierung sei überhaupt ein von der Kultur erzwungenes Triebschicksal. Aber man tut besser, sich das noch länger zu überlegen. Drittens endlich, und das scheint das Wichtigste, ist es unmöglich zu übersehen, in welchem Ausmaß die Kultur auf Triebverzicht aufgebaut ist, wie sehr sie gerade die Nichtbefriedigung (Unterdrückung, Verdrängung oder sonst etwas?) von mächtigen Trieben zur Voraussetzung hat. Diese »Kulturversagung« beherrscht das große Gebiet der sozialen Beziehungen der Menschen; wir wissen bereits, sie ist die Ursache der Feindseligkeit, gegen die alle Kulturen zu kämpfen haben. Sie wird auch an unsere wissenschaftliche Arbeit schwere Anforderungen stellen, wir haben da viel Aufklärung zu geben. Es ist nicht leicht zu verstehen, wie man es möglich macht, einem Trieb die Befriedigung zu entziehen. Es ist gar nicht so ungefährlich; wenn man es nicht ökonomisch kompensiert, kann man sich auf ernste Störungen gefaßt machen.

Übersetzung
Ich gebe die Übersetzung jetzt doch einmal als Interlinearversion. Sie soll zeigen, dass man Wort für Wort und weitgehend sehr nah am Text eine im Dt. verständliche Rohübersetzung herstellen kann und so ein präsises Verständnis für die griechische Formulierung bekommt. Wenn wir uns nicht um dieses präzise Verständnis des Griechischen mit all seinen morphemischen und syntaktischen Feinheiten bemühen, können wir das mühsame Geschäft auch sein lassen und uns mit fertigen dt. Übersetzungen begnügen.
Daher meine dringende Bitte an Walter: Hol Dir nicht sonstwoher irgendwelche fertigen Übersetzungsbruchstücke, sondern bemühe Dich selbst oder schreibe auf, wo was fehlt.
Die Seite https://d.iogen.es/web/ hilft Euch bei schwierigen Formen und Vokabeln weiter. Wenn meine Vokabelangaben nicht ausreichen, dann macht Euch am besten – wie ich auch – im Gemoll klug (Deutsch-griechisches Schul- und Handwörterbuch, Oldenbourg Verlag), 66,00 €.

οἶμαι δέ γε, ἦν δ᾽ ἐγώ,
Ich meine aber doch, sagte ich,

καὶ παντοδαπόν τε καὶ πλείστων ἠθῶν μεστόν,
dass sowohl (καί 1) [sowohl... (τε 1)] vielfältig und (καί 2) voll von den meisten Charakterformen

καὶ τὸν καλόν τε καὶ ποικίλον, ὥσπερ ἐκείνην τὴν πόλιν[1], τοῦτον τὸν ἄνδρα εἶναι·
als auch (καί 3 = 1‘) dieser [sowohl... (τε 2)] gute und (καί 4) bunte Mann wie jene Stadt sei;

ὃν πολλοὶ ἂν καὶ πολλαὶ ζηλώσειαν τοῦ βίου,
den viele Männer und Frauen um sein Leben beneiden

παραδείγματα πολιτειῶν τε καὶ τρόπων πλεῖστα ἐν αὐτῷ ἔχοντα.
weil er Beispiele von Verfassungen und Charakteren in sehr reicher Zahl in sich (s.u.) trägt.

(ἐν αὐτῷ ist im Gr. nicht reflexiv, weil es im AcI steht und das Subjekt des HS ein anderes, nämlich πολλοί, ist; im Dt. aber ist „sich“ rückbezüglich auf das Subjekt des Kausalsatzes „er“.

οὗτος γάρ, ἔφη, ἔστιν.
So, sagte er, ist er ja.

[562a] τί οὖν;
Was nun?

τετάχθω ἡμῖν κατὰ δημοκρατίαν ὁ τοιοῦτος ἀνήρ,
Soll uns gemäß der Demokratie ein solcher Mensch <nun fertig> aufgestellt/bestimmt/definiert sein

ὡς δημοκρατικὸς ὀρθῶς ἂν προσαγορευόμενος;
als ein mit Recht wohl demokratisch genannter?

τετάχθω, ἔφη.
Er soll <nun fertig> aufgestellt/bestimmt/definiert sein, sagte er.

ἡ καλλίστη[2] δή, ἦν δ᾽ ἐγώ, πολιτεία τε καὶ ὁ κάλλιστος ἀνὴρ
Die beste Verfassung nun, sagte ich, und der beste Mann

λοιπὰ ἂν ἡμῖν εἴη διελθεῖν, τυραννίς τε καὶ τύραννος.
sind uns wohl <noch> übrig durchzugehen, die Tyrannis und der Tyrann.

κομιδῇ γ᾽, ἔφη.
Mit Sicherheit, sagte er.

φέρε δή, τίς τρόπος τυραννίδος, ὦ φίλε ἑταῖρε, γίγνεται;
Also los, welches wird/ist die Eigenart der Tyrannis, lieber Freund?

ὅτι μὲν γὰρ ἐκ δημοκρατίας μεταβάλλει σχεδὸν δῆλον.
Denn dass sie aus der Demokratie heraus sich verändert, ist hinreichend klar.

δῆλον.
Ja, klar.

ἆρ᾽ οὖν τρόπον τινὰ τὸν αὐτὸν
Entsteht nun auf dieselbe Weise

ἔκ τε ὀλιγαρχίας δημοκρατία [562b] γίγνεται καὶ ἐκ δημοκρατίας τυραννίς;
(sowohl) wie aus der Oligarchie die Demokratie (als auch) <so auch> die Tyrannis aus der Demokratie?

πῶς;
Wie denn?

ὃ προύθεντο, ἦν δ᾽ ἐγώ, ἀγαθόν,
Was sie sich, sagte ich, als <höchstes> Gut vorgesetzt hatten,

καὶ δι᾽ ὃ ἡ ὀλιγαρχία καθίστατο –
und weswegen die Oligarchie aufgestellt wurde –

τοῦτο δ᾽ ἦν [ὑπερ]πλοῦτος· ἦ γάρ; -
das war der Reichtum; nichtwahr?

ναί.
Ja.

ἡ πλούτου τοίνυν ἀπληστία καὶ ἡ τῶν ἄλλων ἀμέλεια
Folglich hat die Gier nach Reichtum und die Vernachlässigung der anderen Belange

διὰ χρηματισμὸν αὐτὴν ἀπώλλυ.
aufgrund des Gelderwerbs sie zugrunde gerichtet.

ἀληθῆ, ἔφη.
Sehr wahr, sagte er.

ἆρ᾽ οὖν καὶ ὃ δημοκρατία ὁρίζεται ἀγαθόν,
Was sich nun auch die Demokratie als <höchstes> Gut bestimmte,

ἡ τούτου ἀπληστία καὶ ταύτην καταλύει;
löst die Gier danach auch sie auf?

λέγεις δ᾽ αὐτὴν τί ὁρίζεσθαι;[3]
Was aber, meinst du, bestimmt sie sich <als höchstes Gut>?

τὴν ἐλευθερίαν, εἶπον.
Die Freiheit, sagte ich.

τοῦτο γάρ που ἐν δημοκρατουμένῃ [562c] πόλει ἀκούσαις ἂν
´` Denn du könntest wohl in einer Demokratie hören,

ὡς ἔχει τε κάλλιστον
dass sie [sowohl] `dies´ als Bestes enthält

καὶ διὰ ταῦτα ἐν μόνῃ ταύτῃ ἄξιον οἰκεῖν ὅστις φύσει ἐλεύθερος.
[als auch] und dass es deswegen angemessen <ist>, dass in allein ihr (wohnt) lebt, wer frei ist.

λέγεται γὰρ δή, ἔφη, καὶ πολὺ τοῦτο τὸ ῥῆμα.
Es wird ja, sagte er, auch oft diese Aussage (gesagt) gemacht.

ἆρ᾽ οὖν, ἦν δ᾽ ἐγώ, ὅπερ ᾖα νυνδὴ ἐρῶν,
´Verändert` also, sagte ich, was ich bereits im Begriff war zu sagen,

ἡ τοῦ τοιούτου ἀπληστία καὶ ἡ τῶν ἄλλων ἀμέλεια
die Gier nach solchem und die Vernachlässigung der anderen Belange

καὶ ταύτην τὴν πολιτείαν μεθίστησίν τε
auch diese Verfassung ´` [sowohl]

καὶ παρασκευάζει τυραννίδος δεηθῆναι;
[als auch] und ruft sie den Wunsch nach Tyrannis hervor?

πῶς; ἔφη.
Wie denn?, sagte er.

ὅταν οἶμαι δημοκρατουμένη πόλις
Wenn, meine ich, eine demokratisch regierte Stadt

ἐλευθερίας διψήσασα [562d] κακῶν οἰνοχόων προστατούντων τύχῃ,
´gerade` unter der Leitung schlechter Mundschenken nach Freiheit dürstet ´`,

καὶ πορρωτέρω τοῦ δέοντος ἀκράτου αὐτῆς μεθυσθῇ,
und sich über das Zulässige hinaus an ihr (als ungemischter) wie an ungemischtem Wein berauscht,

τοὺς ἄρχοντας δή,
dann `bestraft´ sie die Herrschenden,

ἂν μὴ πάνυ πρᾷοι ὦσι καὶ πολλὴν παρέχωσι τὴν ἐλευθερίαν,
wenn sie nicht gänzlich milde sind und die Freiheit in großem Umfang zulassen,

κολάζει αἰτιωμένη ὡς μιαρούς τε καὶ ὀλιγαρχικούς.
´` und beschuldigt sie als verrucht und oligarchisch.

δρῶσιν γάρ, ἔφη, τοῦτο.
Ja, sagte er, das tun sie.

 

Nächstes Treffen: Sonntag, 16.06.24, 10:00 Uhr
Da werden wir auch besprechen, wie wir in den Sommererein verfahren wollen.

Vorbereitung bis dahin:
Ich habe den Text bis 564a mit Anmerkungen und Vokabeln in Plat.Pol.VIII hochgeladen.
Bitte an Walter: Schick mir bitte eine Interlinearversion, beginnend mit 563a zu.
 

 


[1]ὥσπερἐκείνηντὴνπόλιν: mit denselben Vokabeln wurden in [557c] die Demokratie und die darin lebenden Menschen beschrieben (παντοδαποὶ ... ἄνθρωποι). Hier gilt dasselbe auch für den einzelnen Menschen in sich.

[2]καλλίστη: Ironie wie schon [558c] gegenüber der Demokratie.

[3]λέγειςδ᾽αὐτὴντίὁρίζεσθαι; analog zur relativ. Verschränkung gleichsam eine Verschränkung des AcI mit dem Interr.Pron.