Plat.Pol.554a – 554e Protokoll zum 10.03.2024

pdf-Fassung wie immer nach Klick auf den Titel

Zeit_ 10:00 – 12:00 Uhr                               -              Ort: online
anwesend: Holger, Thorsten, Ulf, Friedrich      Caren hat sich entschuldig! Wir vermissen sie.

Begrüßung

Wir begrüßen Thorsten aus Gelnhausen in unserer Runde. Er ist tatsächlich über SuperProf auf uns aufmerksam geworden und nimmt heute schon eine Stunde lang an unserem Treffen teil. Am Ende sagt er, dass er froh sei, auf uns gestoßen zu sein. Und wir anderen wünschen uns, dass er dabeibleibt.

Zum Lektüre-Zusammenhang:

Das Thema der Politeia ist die Frage nach der Gerechtigkeit, genauer: ob der Gerechte glücklich sei.
Methodisch geht Platon so vor, dass er zuerst nach der gerechten Staatsform fragt und dann nach dem ihr entsprechenden Menschen. Denn in der Großform sei der Gegenstand leichter zu fassen als beim in ihr lebenden Menschen, der ihr nach Platons Meinung entspricht (ὅμοιος τῇ πολιτείᾳ).

In den Büchern 1 bis 7 entwickelt Platon seinen Idealstaat, den er Aristokratie nennt, mit den drei Ständen Handwerkern, Wächtern, Philosophenkönigen. Diese drei Stände entsprechen den platonische Seelenteilen Begehrendes (ἐπιθυμητικόν), Muthaftes (θυμοειδές) und Vernünftiges (λογίστικον).

Im 8. und 9. Buch werden die wichtigsten anderen Staatsformen in de Reihenfolge Timokratie, Oligarchie, Demokratie und Tyrannis sowie die ihnen entsprechenden Menschen in ihrer Eigenheit untersucht. Es ist die absteigende Reihenfolge des Staatsverfalls. Bisher geht Platon dabei in vier Schritten vor: 1. Wie kommt die Staatsveränderung (μεταβολή) zustande? 2. Was sind die Charakteristika des „neuen“ Staates? 3. Wie entsteht der dem „neuen“ Staat entsprechende Mensch? Bisher dargestellt als die Veränderung des Sohnes, der seinen „konservativen“ Vater im neuen Staatswesen scheitern sieht. 4. Welches sind die Chrakteristika des dem „neuen“ Staat entsprechenden Menschen?

Wir beschäftigen uns in unserer Lektüregruppe gerade mit dem Abschnitt über die Oligarchie, die von der Geldgier bestimmt ist. Die Oligarchen werden im Schritt 2 mit den schmarotzerhaften Drohnen im Bienenstaat verglichen, mit dem Unterschied dass sie auch Stacheln haben, um ihre Interessen durchzusetzen. Diejenigen ohne Stacheln geraten in die extreme, nutzlose Armut der Bettler.

Zuletzt haben wir die Darstellung der Entwicklung des oligarchischen Menschen gelesen (Schritt 3), der am Ende das λογίστικον  und das θυμοειδές vom inneren Thron seiner Seele stürzt und dort das ἐπιθυμητικόν inthronisiert. Wir beginnen nun mit dem Schritt 4.

Übersetzung

ἡ γοῦν μεταβολὴ αὐτοῦ ἐξ ὁμοίου ἀνδρός ἐστι τῇ πολιτείᾳ, ἐξ ἧς ἡ ὀλιγαρχία μετέστη.

Seine Veränderung ist also die aus einem Manne, der der Verfassung entspricht, aus der sich die Oligarchie ergibt.

σκοπῶμεν δὴ εἰ ὅμοιος ἂν εἴη. [554a]

Lass uns also betrachten, ob er <ihr> gleich sei.

σκοπῶμεν.

Lass es uns betrachten.

οὐκοῦν πρῶτον μὲν τῷ χρήματα περὶ πλείστου ποιεῖσθαι ὅμοιος ἂν εἴη;

Könnte er nun dadurch, dass er Geld am höchsten schätzt, <ihr> entsprechend sein?

πῶς δ᾽ οὔ;

Ja doch.

καὶ μὴν τῷ γε φειδωλὸς εἶναι καὶ ἐργάτης, τὰς ἀναγκαίους ἐπιθυμίας μόνον τῶν παρ᾽ αὑτῷ ἀποπιμπλάς, τὰ δὲ ἄλλα ἀναλώματα μὴ παρεχόμενος, ἀλλὰ δουλούμενος τὰς ἄλλας ἐπιθυμίας ὡς ματαίους.

Sicher auch dadurch, dass er sparsam und arbeitssam ist, indem er nur die notwendigen Begierden von denen, die er bei sich hat, erfüllt, die anderen Aufwendungen aber nicht treibt, sondern sich die anderen Begierden als unnötig unterwirft.

πάνυ μὲν οὖν.

Ganz bestimmt.

αὐχμηρός γέ τις, ἦν δ᾽ ἐγώ, ὢν καὶ ἀπὸ παντὸς περιουσίαν ποιούμενος, θησαυροποιὸς ἀνήρ - οὓς δὴ καὶ ἐπαινεῖ τὸ πλῆθος [554b] - ἢ οὐχ οὗτος ἂν εἴη ὁ τῇ τοιαύτῃ πολιτείᾳ ὅμοιος;

Ganz armselig ist er, sagte ich, und verschafft sich von allem Gewinn, ein Schätze ansammelnder Mann – (die) wie sie ja auch die Menge lobt – oder ist dieser etwa nicht der derartigen Verfassung entsprechend?

ἐμοὶ γοῦν, ἔφη, δοκεῖ· χρήματα γοῦν μάλιστα ἔντιμα τῇ τε πόλει καὶ παρὰ τῷ τοιούτῳ.

Mir jedenfalls, sagte er, scheint es so. Geld jedenfalls steht für die Stadt sowohl als auch bei ihm am meisten am meisten in Wert.

οὐ γὰρ οἶμαι, ἦν δ᾽ ἐγώ, παιδείᾳ ὁ τοιοῦτος προσέσχηκεν.

Denn nicht, glaube ich, sagte ich, achtet so einer auf Bildung.

οὐ δοκῶ, ἔφη· οὐ γὰρ ἂν τυφλὸν ἡγεμόνα τοῦ χοροῦ ἐστήσατο καὶ ἐτί<μα> μάλιστα.

Glaube ich <auch> nicht, sagte er; denn sonst würde er keinen blinden Chorführer aufstellen und ihn vor allem schätzen..

εὖ, ἦν δ᾽ ἐγώ. τόδε δὲ σκόπει· κηφηνώδεις ἐπιθυμίας ἐν αὐτῷ διὰ τὴν ἀπαιδευσίαν μὴ φῶμεν ἐγγίγνεσθαι, τὰς μὲν [554c] πτωχικάς, τὰς δὲ κακούργους, κατεχομένας βίᾳ ὑπὸ τῆς ἄλλης ἐπιμελείας;

Gut, sagte ich. Bedenke aber folgendes: Sollen wir nicht sagen, dass in ihm wegen seiner Unbildung drohnenartige Begierden entstehen, teils auf Bettlerart, teils bösartige, gewaltsam niedergehalten von der anderen Sorge.

καὶ μάλ᾽, ἔφη.

Und sehr, sagte er.

οἶσθ᾽ οὖν, εἶπον, οἷ ἀποβλέψας κατόψει[1] αὐτῶν τὰς κακουργίας;

Weißt du wohl, sagte ich, unter welchem Gesichtspunkt er ihre Schandtaten betrachten wird?

ποῖ; ἔφη.

Aus welchem? sagte er.

εἰς τὰς τῶν ὀρφανῶν ἐπιτροπεύσεις, καὶ εἴ πού τι αὐτοῖς τοιοῦτον συμβαίνει, ὥστε πολλῆς ἐξουσίας λαβέσθαι[2] τοῦ ἀδικεῖν.

Unter dem der Vormundschaften für Waisenkinder und ob ihnen wohl derartiges zustößt, dass sie sich der großen Möglichkeit bemächtigen, Unrecht zu tun.

ἀληθῆ.

Wahr.

ἆρ᾽ οὖν οὐ τούτῳ δῆλον ὅτι ἐν τοῖς ἄλλοις συμβολαίοις ὁ τοιοῦτος, ἐν οἷς εὐδοκιμεῖ δοκῶν δίκαιος εἶναι, ἐπιεικεῖ [554d] τινὶ ἑαυτοῦ βίᾳ κατέχει ἄλλας κακὰς ἐπιθυμίας ἐνούσας, οὐ πείθων ὅτι οὐκ ἄμεινον, οὐδ᾽ ἡμερῶν λόγῳ, ἀλλ᾽ ἀνάγκῃ καὶ φόβῳ, περὶ τῆς ἄλλης οὐσίας τρέμων;

Ist dadurch nun nicht klar, das ein solcher in den anderen Rechtsverhältnissen, in denen er angesehen ist, weil er anständig zu sein scheint, mit einer gewissen ordentlichen Selbstbeherrschung andere innewohnenden Begierden niederhält, nicht in der Überzeugung, dass es nicht besser ist, auch nicht aus Vernunft <sie> mildernd, sondern aus Notwendigkeit und aus Furcht um seinen anderen Besitz zitternd.

καὶ πάνυ γ᾽, ἔφη.

Ja bestimmt, sagte er.

καὶ νὴ Δία, ἦν δ᾽ ἐγώ, ὦ φίλε, τοῖς πολλοῖς γε αὐτῶν ἐνευρήσεις, ὅταν δέῃ τἀλλότρια ἀναλίσκειν, τὰς τοῦ κηφῆνος συγγενεῖς ἐνούσας ἐπιθυμίας.

Und beim Zeus, sagte ich, mein Freund, in den meisten von ihnen wirst du, wenn es nötig ist, das fremde Gut aufzuwenden, die innewohnenden der Drohne verwandten Begierden finden.

καὶ μάλα, ἦ δ᾽ ὅς, σφόδρα.

Und ganz klar, sagte er.

οὐκ ἄρ᾽ ἂν εἴη ἀστασίαστος ὁ τοιοῦτος ἐν ἑαυτῷ, οὐδὲ εἷς ἀλλὰ διπλοῦς τις, ἐπιθυμίας[3] δὲ ἐπιθυμιῶν ὡς τὸ πολὺ [554e] κρατούσας ἂν ἔχοι βελτίους χειρόνων.

Ein solcher dürfte nun in sich nicht ungespalten und nicht ein einziger, sondern irgendwie doppelt sein, und er dürfte Begierden haben, die meistens über Begierden herrschen, nämlich bessere über die schlechteren.

ἔστιν οὕτω.

So ist es.

διὰ ταῦτα δὴ οἶμαι εὐσχημονέστερος ἂν πολλῶν ὁ τοιοῦτος εἴη· ὁμονοητικῆς δὲ καὶ ἡρμοσμένης τῆς ψυχῆς ἀληθὴς ἀρετὴ πόρρω ποι ἐκφεύγοι ἂν αὐτόν.

Deswegen also ist solcher, meine ich, ansehnlicher als viele. Aber die wahre Tugend der gleichgestimmten und harmonischen Seele dürfte ihm wohl weit abgehen.

δοκεῖ μοι.

Scheint mir so.

 

Anmerkungen dazu:

  1. Substantivierte Infinitive:
    [554a] τῷ χρήματα περὶ πλείστου ποιεῖσθαι ὅμοιος ἂν εἴη
    „Durch das Geld-am-höchsten-Schätzen ist er <ihr> wohl entsprechend“
    Es bietet sich die Umschreibung mit „die Tatsache dass“ an. Wenn der Infinitiv keinen Subjektsakkusativ bei sich führt, ergänzen wir das Subjekt aus dem übergeordneten Satz. :
    „Durch die/Aufgrund der Tatsache, dass er Geld am höchsten einschätzt, ist er <ihr> wohl entsprechend“.
    [554a] τῷ γε φειδωλὸς εἶναι τὰς ἀναγκαίους ἐπιθυμίας ... ἀποπιμπλάς
    „Aufgrund der Tatsache, dass er sparsam ist, erfüllt er nur die notwendigen Wünsche“
    Hier steht sogar das Prädikatsnomen φειδωλός – an den übergeordeten Satz angepasst –  im Nominativ; strenge genommen müsste zu einem gedachten Subjektsakkusativ αὐτόν ein φείδωλον im Akkusativ kongruieren. Es lebe die Flexibilität des Altgriechischen!
  2. Zur Angemessenheit der Bildsprache:
    [554b] Die Metapher vom blinden/dummen (weil ἄλογος) Chorführer für die leitende Seeleninstanz ist naheliegend, da im Kontext von Bildung die Rede ist. Und der Theaterbesuch etwa zu den Dionysien gehörte für den durchschnittlich gebildeten Athener zu den Selbstverständlichkeiten. 
  3. Zur Wertung durch die Bildsprache
    Die absurde und durchaus wertende Analogie der zweibeinigen Drohnen, die anders als die der Bienen zum Teil einen Stachel haben, zum anderen Teil aber nicht, wird in [554d] wieder  aufgegriffen. Das festigt die Konsistenz des Bildes und seiner Wertung.

Nächster Termin:

Sonntag, 17.03.24, 10:00 Uhr – Anders als besprochen sind da noch keine Ferien.

Verbereitung dafür: einfach weiterübersetzen. Ich bin mit meinen Anmerkungen und Vokabeln erst bei [556b], werde das Ganze aber bald fortsetzen.

Für Thorsten: Du findest den Text des gesamten 8. Buches unter „Lektüre/Platon/Plat.Pol.VIII“, und zwar sowohl den vollständigen Text als auch den von mir Hilfen versehenen, soweit wir es für die nächste Sitzung brauchen, ebenso die dafür bereitgestellten Vokabeln.

Im Internet:
Ich mache Euch auch auf ein sehr hilfreiches Internet-Portal aufmerksam, das eine deutliche Weiterentwicklung von http://www.perseus.tufts.edu/hopper/collection?collection=Perseus:collection:Greco-Roman darstellt und den jeweiligen Text in ganzer Länge kopierbar (leider ohne die Paragraphen-Angabe), aber wie bei perseus mit dem Link einer jeden Vokabel auf den Liddle-Scott zur Verfügung stellt:
https://d.iogen.es/web/

Mit den (kopierbaren) Paragraphen-Angaben findet man den fortlaufenden Text hier, aber schwierig aufzurufen und ohne Liddle-Scott:
https://el.wikisource.org/wiki/%CE%A0%CE%BF%CE%BB%CE%B9%CF%84%CE%B5%CE%AF%CE%B1/%CE%97

 


[1]κατόψει: Nebenform zu κατόψῃ

[2]λαβέσθαι: m.Gen.Objekt πολλῆςἐξουσίας, von dem wiederum τοῦἀδικεῖνabhängt.

[3]ἐπιθυμίας ff.: ordne ἐπιθυμίαςδὲβελτίουςὡςτὸπολὺ [554e] κρατούσαςἐπιθυμιῶνχειρόνωνἂνἔχοι.