p23 Protokoll zum 20.03.2022 Plat.epVII.342b-344d

Zeit: 10:00 bis 12:15 Uhr      Ort: online
anwesend: Caren, Holger, Friedrich  - Ulf musste leider arbeiten

 

Übersetzung:

Zu den Grunsätzen des Übersetzens, d.h. zu den doppelten Schwierigkeit einer eindeutigen Übersetzung, habe ich am Beispiel von φύσις ein paar Gedanken zu Beginn des letzten Protokolls dargestellt.  In diesem Sinne haben wir uns beim Übersetzen dieses Textes Gedanken über seine zentralen Begriffe gemacht, und dementsprechend bleiben in der Übersetzung mehrere Übersetzungmöglichkeiten nebeneinander stehen.

Zur Syndese (Verbindung der Sätze oder Kola durch Partikeln): In der altgriechischen Prosa werden im Grundsatz alle Glieder einer Aufzählungen durch Partikeln voneinande getrennt, sei es aufzählend (καί/τε, verneint οὔτε) oder entgegensetzend (δέ, ἀλλά, verneint oὐδέ) oder zur Wahl stellend (ἤ, εἴτε). Ebenso werden ganze Sätze durch diese Partikeln und andere (wie z.B. oὕν, δή, ἄρα, μέντοι) voneinander getrennt.
In Satz 3 werden die Glieder der Aufzählung durch wiederholtes δέ voneinander getrennt; im Dt. wirkt ein wiederholtes "aber" viel zu stark antithetisch, so dass die Trennung allein des letzten Glieds durch "und" dem Gedankengang besser entspricht. Wir müssen von Fall zu Fall entscheiden, ob nur aufgezählt oder eher entgegengesetzt wird.
Im Satz 14 werden die Glieder der Aufzählung mit wiederholtem καί aneinander gereiht, zum Teil auch asyndetisch; s. dort.
Zu den korrelierenden oder "doppelten" Partikeln: Zu μέν ... δέ gibt es die dt. Entsprechung "zwar ... aber". Nicht immer müssen wir das häufige μέν in der Übersetzung wiedergeben, weil es oft seine antithetische Funktion verloren hat und (wie das δέ) nur der Satztrennung dient.
Bei den doppelten, also wörtlich identischen Korrelative wie bei καί/τε ... καί/τε = "sowohl .... als auch" und ἥ ... ἥ = "entweder ... oder" unterscheide ich die erste auf die folgende Aufzählung hinweisende Partikel von der zweiten die Aufzählungsglieder trennenden Partikel. Schwierig kann es werden, wenn die erste Partikel am Anfang eines Satzes steht: Es kann sich um eine die Sätze trennende Partikel handeln, aber auch um eine, die auf die folgende Aufzählung hinweist. Im zweiten Falle fehlt dann eine satztrennende Partikel; es liegt also eine Asyndese vor. Dieses Übersetzungsproblem tritt vor allem bei τε ... τε/καί auf; denn die enklitische Partikel τε ist besser zur  Aufzählung von Satzgliedern geeignet als zur Verbindung von Sätzen. In unserem Text tritt das Problem in Satz 14 auf.
 

 

 

 

Erläuterungen

1

ἔστιν τῶν ὄντων ἑκάστῳ,

δι᾽ ὧν τὴν ἐπιστήμην ἀνάγκη παραγίγνεσθαι,

τρία,

τέταρτον δ᾽ αὐτή

Es gibt für jedes der seienden Dinge ´dreierlei`,
wodurch die Erkenntnis/das Wissen notwendig eintritt;

°°

das vierte aber ist sie/es selbst.

ἐπιστήμη: Auf Carens Nachfrage hin scheuen wir uns (anders als Rainer Knab) vor der Übersetzung "Erkenntnis", weil darin heutzutage häufig die Konnotation Erkenntnis von etwas Höherem, Tranzendentalen, Metaphysischen mitschwingt. Wie der Fortgang des Textes zeigt, ist aber gerade das "Vierte" als die Zusammenfassung der ersten "Drei" ganz diesseitig gedacht. Der ganze philosophische Exkurs ist ja als eine kurz gefasste Erkenntnistheorie zu lesen und antwortet auf Kants Frage "Was kann man wissen" oder "Wie ist Wissenschaft" möglich? So scheint es, dass man ἐπιστήμη besser mit Wissen (wenn nicht gar: Wissenschaft) übersetzt.

2

- πέμπτον δ᾽ αὐτὸ [342β] τιθέναι δεῖ

ὃ δὴ γνωστόν τε καὶ ἀληθῶς ἐστιν ὄν -

Und als fünftes muss man das setzen,

was ja erkennbar und wahrhaft seiend ist.

γνωστόν τε καὶ ἀληθῶς ὄν: Was das eigentlich meint, haben wir noch nicht besprochen. Aber dies doch schon: Das "Fünfte" ist erkennbar. Daraus ergibt sich, dass wir etwa in Satz 9 und 12 αὐτὸς ὁ κύκλος nicht als "der Kreis an sich" übersetzen dürfen; denn das "an sich" ist (wenigstens bei Kant) das grundsätzlich Nicht-Erkennbare.

3

ἓν μὲν ὄνομα,

δεύτερον δὲ λόγος,

τὸ δὲ τρίτον εἴδωλον,

τέταρτον δὲ ἐπιστήμη.

Eins ist der Name,
das zweite die Rede/Bedeutung/Definition,
das dritte das Bild/Konkret-Sichtbare
das vierte aber die Erkenntnis/das Wissen.

Diese zentralen Begriffe werden im folgenden geklärt.

4

περὶ ἓν οὖν λαβὲ

βουλόμενος μαθεῖν

τὸ νῦν λεγόμενον,

καὶ πάντων οὕτω πέρι νόησον:

Begreife also eins,

wenn du verstehen willst,

was jetzt gesagt wird,

und über alles denke so nach.

τὸ νῦν λεγόμενον: Für das Part.Pr.P gibt es im Dt. kein Äquivalent; wir haben kein Part.Pr.P. In unserem Falle, da es mit dem bestimmten Artikel steht, können wir es leicht durch einen Relativsatz ersetzen. In anderen Fällen wie in Satz 5 und Satz 8 ist der Unterschied zwischen Part.Pr.P und Part.Perf.P weniger relevant. Auch das ist von Fall zu Fall zu entscheiden.

5

κύκλος ἐστίν τι λεγόμενον,

ᾧ τοῦτ᾽ αὐτό ἐστιν ὄνομα

ὃ νῦν ἐφθέγμεθα.

Der Kreis ist etwas Gesagtes/was man sagt/ein Wort,

durch das eben dies der Name ist,

den wir gerade ausgesprochen haben.

Der Satz folgt asyndetisch auf den vorherigen. Das heißt, er ist als Explikation des vorherigen zu sehen, wie sonst eine Apposition oder wie der Beginn einer direkten Rede. Wir übersetzen die Asyndese mit dem Doppelpunkt.

 

6

λόγος δ᾽ αὐτοῦ τὸ δεύτερον,

ἐξ ὀνομάτων καὶ ῥημάτων συγκείμενος·

Rede/Bedeutung/Definition davon ist das zweite,

aus Nomina und Verba zusammengesetzt.

Im Gegensatz zum ὄνομα (Lexem, Signifiant, Bedeutungsträger) besteht λόγος aus mehreren Wörtern, macht eine Aussage über den Gegenstand, der den Namen Kreis hat. Das ist nach Kant ein analytisches Urteil, d.h.: der Begriffsinhalt wird nur analysiert. Interessant ist, dass ὄνομα hier neben ῥῆμα ganz selbstverständlich als tt der Grammatik gebraucht wird, also mit ganz andere Denotation (mit anderem Semem, siginifié oder Bedeutungsinhalt). 

7

τὸ γὰρ ἐκ τῶν ἐσχάτων ἐπὶ τὸ μέσον

ἴσον ἀπέχον πάντῃ,

λόγος ἂν εἴη ἐκείνου

ᾧπερ στρογγύλον καὶ περιφερὲς ὄνομα
[342ξ] καὶ ύκλος.

Denn das vom Äußersten zur Mitte hin

überall gleichweit Entfernte

könnte die Rede/Bedeutung/Definition von jenem sein,

das den Namen rund und herumgezogen hat

und Kreis.

Am Beispiel Kreis wird deutlich, dass λόγος in diesem Zusammenhang tatsächlich das ist, was wir Definition (oder Konzept und in diesem engeren Sinne auch Begriff) nennen. Später wird Platon noch genauer erläutern, dass es für ein und dasselbe Konzept auch mehrere, verschiedene ὀνόματα geben kann wie schon in diesem Satz vorgeführt wird.

8

τρίτον δὲ
τὸ ζωγραφούμενόν τε καὶ ἐξαλειφόμενον

καὶ τορνευόμενον καὶ ἀπολλύμενον·

Das dritte ist
das Gemalte und <wieder> Ausgewischte,
und das Gedrechselte und <wieder> Zerstörte.

Im Gegensatz zu Satz 4 ist es hier unerheblich, dass wir für das Part.Pr.P im Deutschen das Part.Perf.P einsetzen. Mit den Zusätzen "ausgewischt" und "zerstört" wird schon hier auf die Vergänglichkeit des "Dritten", also des εἴδωλον, hingewiesen, was später erklärt wird. εἴδωλον, vom Stamm ἰδεῖν, εἵδον  meint das konkret Sichtbare, den mit dem Griffel gezogenen "Kreis", der zur konkreten Welt gehört.
 

9

ὧν αὐτὸς ὁ κύκλος,

ὃν πέρι πάντ᾽ ἐστὶν ταῦτα,

οὐδὲν πάσχει,

τούτων ὡς ἕτερον ὄν.

wovon der Kreis selbst,

auf den all das bezogen ist,

nicht betroffen ist (nichts erleidet),

als ein von diesem verschiedenes Seiendes.

Dies gilt für das "Vierte" wie für das "Fünfte" und wird in Satz 13 erklärt. Der Kreis selbst ist ein Noem.

10

τέταρτον δὲ ἐπιστήμη

καὶ νοῦς

ἀληθής τε δόξα περὶ ταῦτ᾽ ἐστίν·

Das vierte ´ist` [aber]die Erkenntnis/das Wissen

und das Verständnis/Nachdenken

und die wahre Meinung in Bezug auf dies °°.

Das "Vierte", bisher ἐπιστήμη (s. Satz 1 und 3), wird durch weitere Substantive in seiner Bedeutung präzisiert. νοῦς ist das Vermögen nachzudenken (s. Satz 4, wo νόησον neben μαθεῖν  steht); das ist im Dt. der Verstand; und die ἀληθὴς δόξα ist die mitteilbare Meinung, wie auch ἔδοξε "es schien gut, man beschloss" zeigt. Hier wird Wissen schon fast zum Begriff Wissenschaft, denn es verbindet Name, Definition und konkrete Vorstellung (nach-)denkend. Mit Kant zu sprechen: es ist die Instanz für synthetische Urteile, im Beispiel: der Kreis wird im Verstandesgebrauch zu einem Moment der Geometrie.

11

ὡς δὲ ἓν τοῦτο αὖ πᾶν θετέον,

οὐκ ἐν φωναῖς

οὐδ᾽ ἐν σωμάτων σχήμασιν

ἀλλ᾽ ἐν ψυχαῖς ἐνόν,

Als eines aber ist dies wiederum insgesamt zu setzen,

<und (beiordnend)> nicht in Lauten

auch nicht in Formen von Körpern,

sondern in Seelen innewohnend.

Dieses Wissen, diese Wissenschaft findet in der Seele als dem "Ort" des Verstandes statt und nicht mehr im Konkret-Fassbaren. ὡς vor einem Partizipialausdruck betont (wie vor einem Nomen) zuerst einmal dessen prädikative Stellung, dann häufig auch eine kausale Funktion. Die Übersetzung mit einem Kausalsatz (wie bei Knab) legt aber diese logische Funktion des an sich logisch-funktional unbestimmten Prädikativums manchmal allzu sehr fest.
 

12

ᾧ δῆλον ἕτερόν τε ὂν

αὐτοῦ τοῦ κύκλου τῆς φύσεως

τῶν [342δ] τε ἔμπροσθεν λεχθέντων τριῶν.

Dadurch ist deutlich, dass es einerseits etwas anderes ist

als die Natur/das Wesen/Eigentliche des Kreises selbst,

und andererseits als die drei zuvor Genannten.

Hier ist zum zweiten Mal nach Satz 2 explizit vom "Fünften" die Rede; die φύσις des Kreises entspricht dem dort ἀληθῶς ὄν Genannten. Die ἐπιστήμη, also der wissenschaftliche Verstand erfasst die Natur des Kreises selbst also genau so wenig wie die dem Konkreten verhafteten "Drei". .

13

τούτων δὲ ἐγγύτατα μὲν

συγγενείᾳ καὶ ὁμοιότητι
τοῦ πέμπτου νοῦς πεπλησίακεν,


τἆλλα δὲ πλέον ἀπέχει.

Von diesen aber ´steht` °°

aufgrund von Verwandtschaft und Ähnlichkeit
dem fünften der Verstand/das Verständnis/das Nachdenken ´am meisten` nahe;

die anderen <drei> aber sind weiter entfernt.

 
  1. Man beachte, wie innerhalb des Satzes mit μέν ... δέ zwischen den Drei und dem Vierten unterschieden wird, das hier nun durch den νοῦς repräsentiert wird und dadurch dem Fünften nähersteht, also gleichsam in der Mitte zwischen den "Drei"' und dem "Fünften".
 

14

ταὐτὸν δὴ

περί τε εὐθέος ἅμα καὶ περιφεροῦς

σχήματος καὶ χρόας,

περί τε ἀγαθοῦ καὶ καλοῦ καὶ δικαίου,

καὶ περὶ σώματος ἅπαντος σκευαστοῦ τε

καὶ κατὰ φύσιν γεγονότος,

πυρὸς ὕδατός τε καὶ τῶν τοιούτων πάντων,

καὶ ζῴου σύμπαντος πέρι

καὶ ἐν ψυχαῖς ἤθους,

καὶ περὶ ποιήματα καὶ παθήματα σύμπαντα·

Dasselbe <gilt> nun
zugleich von Geradem und Herumgezogenem/Rundem,
Form und Farbe,
von Gutem, Schönem und Gerechtem

und von jedem hergestellten °°
und von Natur gewordenem Körper,

<nämlich> Feuer und Wasser und all dergleichen,
und von jedem Lebewesen

und <von> Eigenarten in den Seelen,
und <also> in Bezug auf alles Getane und Erlittene;

ταὐτὸν δή: Diese Mittelstellung kommt allem epistomelogisch, in der ἐπιστήμη bedachten, Sein zu. Es folgt eine ziemlich wilde ontologische Aufzählung. Darin findet sich mindestens einer Asyndese, nämlich bei πυρός (wo es als Apposition gleichsam mit Doppelpunkt übersetzt werden knn), vielleicht auch bei περί τε ἀγαθοῦ (parallel zum Anfang περί τε εὐθέος, wo das τε "vorausweisend", nicht aber das Vorherige "trennend" gebraucht ist), und dann kann man auch Knab zustimmen, der aus logischen Gründen eine Asyndese bei σχήματος sieht. Ich habe das hier übernommen.

 

Nächstes Treffen: Sonntag, 27.03., 10:00 Uhr

 

Vorbereitung dazu:
Sorgfältige Lektüre dieses Protokolls mit den Erläuterungen zu den einzelnen Sätzen.
Weiterübersetzen in p23_AufgabeAlles. Und natürlich nochmals p23_Vokabeln