p23 Protokoll zum 03.04.22 Plat.epVII.344a-344d
Zeit: 10:00 - 12:00 Uhr - Ort: online
abwesend: Caren, Holger, Ulf, Friedrich
Der syntaktische Kompromiss:
Die Klage über die auf den ersten Blick willkürliche Syntax des Griechischen veranlasst mich denn doch zu einem grundsätzlichen Statement dazu.
Ich bin kein Translatoriker, auch kein Linguist, sondern bin ganz bescheiden an der praktischen Übersetzung interessiert. Folgende Eckpunkte halte ich für wichtig:
Es geht in der Syntax zentral um die Frage, wie eine Sprache die Abgrenzung von Sätzen und Satzperioden voneinander sowie deren innere Gliederung regelt. Im Deutschen hat ein Aussagesatz begonnen, wenn gleich nach dem ersten Satzglied (und das kann ein ganzer NS sein) unverrückbar der finite Prädikatsteil folgt, und wenn es einen zweiten Prädikatsteil gibt, dann steht der am Ende des HS und bildet zusammen mit dem 1. Präd.Teil die Prädikatsklammer. Der Nebensatz beginnt klar mit der Konjuktion, dem Relativ- oder Interrogativpronomen, und sein finiter Prädikatsteil markiert sein Ende. Bei Partizipialausdrücken steht das Partizip ebenso am Ende. Auch in verschachtelten Satzperioden sorgt diese Regelung für Übersicht; allzu komplizierte Verschachtelungen verträgt das Deutsche allerdings nicht. Schon Mark Twain hat sich darüber lustig gemacht.
Das Griechische ist nicht wilder strukturiert als das Deutsche. Es kennt allerdings keine festen Positionen des finiten Verbs im Satz, sondern markiert den Anfang von Sätzen und Satzperioden und deren innere Gliederung weitgehend mit Partikeln. Am Anfang von Nebensätzen stehen wie im Dt. Konjuktionen, Relativ- oder Interrogativpronomina, aber es können auch Teile aus dem Nebensatz vorgezogen werden. Aufgrund z.B. der vielen Partizipialkonstruktionen und der vielfach möglichen Ellipsen ist die Binnenstruktur der Sätze kleinteiliger. Während der Rezipient im Dt. die Satzstellung und die Bildung der Prädikatklammer verfolgt, geht er im Griechischen der Abfolge der einzelnen Kola nach. Die Zuordnung erkennt er Kola an den detailierten Kasus- etc. -Information der Wörter und/oder ebenfalls an den Partikeln.
Beim Übersetzen muss natürlich 1.) die Syntax der Ausgangssprache erkannt und 2.) in die der Zielsprache - mit deren Variationsmöglichkeiten - übertragen werden, doch 3.) so dass die lineare Gedankenabfolge möglichst weitgehend beibehalten wird. Dazu bietet die dt. Syntax vielerlei Variationsmöglichkeiten: HS/NS statt Partizip, präpositionaler Ausdruck, Vorziehen nur des finiten Hilfsverbs an die zweite HS-Stelle usw. Ich nenne das den syntaktischen Kompromiss.
Übersetzung:
Ziel war es, den philosophischen Exkurs vor der Osterpause heute abzuschließen. Daher sind wir etwas eilig durch den Text gegangen, und ich hole in den Erläuterungen noch ein paar Dinge nach, die mir wichtig erscheinen. Aber in dem einen Punkt waren am Ende der Sitzung einig: Die Bemühung um das Verständnis des Originals in seinem genauen Wortlaut erschließt den Text um vieles besser als die Lektüre von Übersetzungen, die sich ja in der Regel auf eine Interpretation festlegen und wie in unserem Falle die Offenheit des Textes verstellen.
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| Erläuterungen |
26 | ἐν οἷσι μὲν οὖν μηδ᾽ εἰθισμένοι τὸ ἀληθὲς ζητεῖν ἐσμεν ὑπὸ πονηρᾶς τροφῆς, ἐξαρκεῖ δὲ τὸ προταθὲν τῶν εἰδώλων, οὐ καταγέλαστοι γιγνόμεθα ὑπ᾽ ἀλλήλων, οἱ ἐρωτώμενοι ὑπὸ [343δ] τῶν ἐρωτώντων, δυναμένων δὲ τὰ τέτταρα διαρρίπτειν τε καὶ ἐλέγχειν·
| Sofern (Bei welchen Dingen) wir nun [zwar] auch nicht gewohnt sind, das Wahre zu suchen aufgrund schlechter Lebensweise, und <uns> das Vorgehaltene der Abbilder genügt, werden wir voneinander nicht verlacht, als die Gefragten von denen, die fragen, durcheinanderzuwerfen und <nur so> zu prüfen . | Nochmals zur Stellung der Partikeln: Das erste μέν steht (an zweiter Stelle) gleich am Anfang einer Periode (eines Satzgefüges), und zwar hier in einem NS. Der dazugehörige HS beginnt dann idealerweise wie hier sehr deutlich mit einem neuen Nominativ, also dem Subjekt oder Prädikatnomen des Hauptsatzes. Eine satzverbindende Partikel macht da keinen Sinn mehr, die steht ja schon am Anfang der Periode. Wenn dann aber wie hier nach dem Ende des NS doch ein δέ mit neuem Subjekt und Prädikat steht, handelt es sich um eine aufzählende Fortsetzung des NS, also um einen zweiten NS. |
27 | ἐν οἷς δ᾽ ἂν τὸ πέμπτον ἀποκρίνασθαι καὶ δηλοῦν ἀναγκάζωμεν,
ὁ βουλόμενος τῶν δυναμένων ἀνατρέπειν κρατεῖ. | Sofern (Bei welchen Dingen) wir aber (zwingen) darauf drängen, das fünfte zu beantworten und klarzustellen, ist jeder Beliebige von denen, die fähig sind, <die Dinge> zu verdrehen, überlegen. | Was bedeeutet die merkwürdige Wendung "das fünfte beantworten"? |
31 | ἑνὶ δὲ λόγῳ, τὸν μὴ συγγενῆ τοῦ πράγματος
οὔτ᾽ ἂν εὐμάθεια ποιήσειέν ποτε οὔτε μνήμη | Mit einem Wort: denjenigen, der der <eigentlichen> Sache nicht verwandt ist, noch Gedächtnis <stärke> jemals <dazu> machen |
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32 | — τὴν ἀρχὴν γὰρ ἐν ἀλλοτρίαις ἕξεσιν οὐκ ἐγγίγνεται— | - denn überhaupt entsteht sie (die eigentliche Sache) nicht in <ihr> fremden Haltungen -, |
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33 | ὥστε ὁπόσοι τῶν δικαίων τε καὶ τῶν ἄλλων ὅσα καλὰ μὴ προσφυεῖς εἰσιν καὶ συγγενεῖς, ἄλλοι δὲ ἄλλων εὐμαθεῖς ἅμα καὶ μνήμονες, οὐδ᾽ ὅσοι συγγενεῖς,
δυσμαθεῖς δὲ καὶ ἀμνήμονες, οὐδένες τούτων μήποτε
μάθωσιν ἀλήθειαν ἀρετῆς εἰς [344β] τὸ δυνατὸν οὐδὲ κακίας. | so dass <schließlich> 1.) alle, die dem Gerechten und dem anderen Guten (was alles gut ist), nicht wesenszugehörig (zugeartet) und verwandt sind, und 2.) andere, <die nur> in je anderem lernfähig sind sowie auch ein gutes Gedächtnis haben, <so dass also> alle diese niemals (keiner von diesen jemals) °°die Wahrheit über Tugend, soweit möglich, und über die Schlechtigkeit ´lernen (lernt)`. | ὥστε ... μάθωσιν: Normalerweise steht konsekutivisches ὥστε mit dem Indikativ (tatsächliche Folge) oder dem Inf./AcI (gedachte, mögliche Folge) und die Verneinung ist immer οὐ. |
34 | ἅμα γὰρ αὐτὰ ἀνάγκη μανθάνειν καὶ τὸ ψεῦδος ἅμα καὶ ἀληθὲς τῆς ὅλης οὐσίας, μετὰ τριβῆς πάσης καὶ χρόνου πολλοῦ, ὅπερ ἐν ἀρχαῖς εἶπον· | Denn sowohl dies <beides> muss man lernen als auch das Falsche (die Lüge) <und zwar> mit aller Kraft (Anstrengung) und viel Zeit, wie (was) ich zu Anfang sagte. | ἅμα ... καὶ ἅμα: zugleich ... und zugleich = "sowohl ... als auch/ nicht nur ... sondern auch"; das kommt so häufiger vor. Ich meine also, dass mit ἅμα ... καὶ ἅμα die ethische Kategorie "Tugend - Schlechtigkeit" auf der einen Seite gegen die erkenntnistheoretische "das Falsche - Wahre" auf der anderen abgesetzt werden soll. Knab dagegen bezieht jedes ἅμα auf je ein Gegensatzpaar wie "zugleich Tugend und Schlechtigkeit". ἐν ἀρχαῖς: nämlich in 340c (p22): ὅτι ἔστι πᾶν τὸ πρᾶγμα οἷόν τε [340ξ] καὶ δι᾽ ὅσων πραγμάτων καὶ ὅσον πόνον ἔχει und 341 c(p22): ἀλλ᾽ ἐκ πολλῆς συνουσίας γιγνομένης περὶ τὸ πρᾶγμα αὐτὸ καὶ τοῦ συζῆν ἐξαίφνης, οἷον ἀπὸ πυρὸς [341δ] πηδήσαντος ἐξαφθὲν φῶς |
35 | μόγις δὲ τριβόμενα πρὸς ἄλληλα αὐτῶν ἕκαστα,
ὀνόματα καὶ λόγοι ὄψεις τε καὶ αἰσθήσεις, ἐν εὐμενέσιν ἐλέγχοις ἐλεγχόμενα καὶ ἄνευ φθόνων ἐρωτήσεσιν καὶ ἀποκρίσεσιν χρωμένων,
ἐξέλαμψε φρόνησις περὶ ἕκαστον καὶ νοῦς, συντείνων | 1.) Indem aber die einzelnen <Faktoren> von ihnen mit Mühe gegeneinander gerieben werden - <und das sind> Namen und Erklärungen <sowie> Gesichts- und Sinneswahrnehmungen -, 2.) indem sie in wohlwollenden Prüfungen °° und ohne Neid ´geprüft werden`, 3.) und (Beiordnung) wenn <wir dafür die Dialektik von> Fragen und Antworten nutzen, und Verstand, wenn der sich anstrengt | A Bei genauerem Zusehen ist der Satz gar nicht so anakoluthisch: Man könnte αὐτῶν ἕκαστα mit den zugehörigen asyndetisch gereihten Partizipien τριβόμενα in 1.) und ἐλεγχόμενα in 2.) als adverbialen Akkusativ verstehen, könnte dann aber die in 1.) folgende Aufzählung ὀνόματα ... αἰσθήσεις nicht als Apposition verstehen, weil sie statt ebenfalls im Akk. im Nom. steht, und müsste sie als Parenthese lesen, etwa im Sinne von ὅσα εἰσίν oder ταῦτα εἰσὶν ὀνόματα ... αἰσθήσεις. Die beiden Aussagen in 1.) und 2.) verstehe ich also als adv. Akk. und lese sie als abhängig vom Gen.abs. <ἡμῶν> ... χρημένων in 3.). Das hieße streng nach deutscher Syntax: "3.) Wenn wir Fragen und Antworten anwenden 1.) in Bezug auf die einzelnen Faktoren davon, indem sie gegeneinander gerieben werden ... <und> 2.) indem sie ... geprüft werden, leuchtet Einsicht auf ..." B Die Einfügung von "die Dialektik von" soll nur verdeutlichen was mit Fragen und Antworten gemeint ist. Das συντείνων kann sich grammatisch nur auf νοῦς beziehen; und so übersetze ich auch. Allerdings halte ich Knabs Konjektur von συντείνων zu συντείνοντι ebenfalls für erwägenswert: "für einen, der sich ... anstrengt". ἐξέλαμψε: gnomischer Aorist - inhaltlich vgl. οἷον ἀπὸ πυρὸς [341δ] πηδήσαντος ἐξαφθὲν φῶς |
36 | διὸ δὴ πᾶς ἀνὴρ σπουδαῖος τῶν ὄντων σπουδαίων πέρι πολλοῦ δεῖ μὴ γράψας ποτὲ ἐν ἀνθρώποις εἰς φθόνον καὶ ἀπορίαν καταβαλεῖ. | Dewegen nun wird ein jeder ernsthafte Mann, keinesfalls jemals schreiben <und es (Beiordnung)> unter den Menschen | Zu diesem Satz fehlt in p23_Aufgabe leider die nötige Erläuterung. Das tut mir leid. Hier aber ist sie: |
37 | ἑνὶ δὴ ἐκ τούτων δεῖ γιγνώσκειν λόγῳ, ὅταν ἴδῃ τίς του συγγράμματα γεγραμμένα εἴτε ἐν νόμοις νομοθέτου εἴτε ἐν ἄλλοις τισὶν ἅττ᾽ οὖν, ὡς οὐκ ἦν τούτῳ ταῦτα σπουδαιότατα, εἴπερ ἔστ᾽ αὐτὸς σπουδαῖος, κεῖται δέ που ἐν χώρᾳ τῇ καλλίστῃ τῶν τούτου· | Mit einem Wort also: man muss daraus erkennen, wenn man jemandes aufgeschriebene Schriften sieht, im schönsten Gebiet von denen dieses <Mannes> befindet. | ἐν χώρᾳ τῇ καλλίστῃ: das könnte ein mythologisches Land sein wie etwa die Insel der Seligen oder auch das schönste persönliche Rückzugsgebiet, die eigene Seele. |
38 | εἰ δὲ ὄντως αὐτῷ ταῦτ᾽ ἐσπουδασμένα ἐν γράμμασιν [344δ] ἐτέθη, ‘ἐξ ἄρα δή τοι ἔπειτα,’ θεοὶ μὲν οὔ, βροτοὶ δὲ ‘φρένας ὤλεσαν αὐτοί.’ | Wenn er aber wirklich dies von ihm ernsthaft Betriebene schriftlich niederlegte, °° dann haben wahrlich nun die Götter selbst zwar nicht, aber die Sterblichen | Der εἰ-Satz enthält eine Bedingung, die ganz ähnlich an zwei Stellen in der Ilias vorkommt und sogar ebenfalls ein Wort des Wortstammes σπουδ- enthält. Platon spielt auf die Ähnlichkeit an und zitiert die anschließende Zeile mit der Folgerung wörtlich, aber mit einer kleinen Erweiterung. Das ergibt einen kunstvollen Abschluss des philosophischen Exkurses. Ilias 7, 359/60 und Ilias 12, 233/4 gleichlautend: ἐξ ἄρα δή τοι ἔπειτα θεοὶ φρένας ὤλεσαν αὐτοί |
Nächster Termin: Sonntag, 24.04.2022, 10:00 Uhr
Vorbereitung dazu:
p24_Vokabeln und p24_Text, soviel Ihr mögt. Ich habe beide Dateien heute überarbeitet.
Bitte haltet Euch an die neuere Fassung (im Browser aktualisieren).
Wenn Ihr mir Teilübersetzungen davon zwischendurch mal zuschickt, werde ich sie gern durchsehen,
sobald meine Zeit (Besuch) es erlaubt.
Außerdem will Caren eine Art Interview vorbereiten für die Werbung weiterer Teilnehmer/innen vorbereiten. Toll!
Ich wünsche Euch eine schöne Osterzeit.